Alles muss raus!
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Meinungsfreiheit auf Twitter

Alles muss raus!

von Dr. Martin R. Herbers | Zeppelin Universität
09.05.2022
Redefreiheit muss gerade auf globalen Plattformen auch die Hörfreiheit der anderen mitdenken. Und die Sprechenden müssen es aushalten, dass sie potenziell nicht gehört werden, auch wenn die eigene Position nach eigener Überzeugung hörenswert ist.

Dr. Martin R. Herbers
Akademischer Mitarbeiter im Fachbereich Kulturwissenschaften und Kommunikationswissenschaften
 
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    Dr. Martin R. Herbers

    Dr. Martin R. Herbers ist seit September 2012 Postdoc im Fachbereich Kultur- und Kommunikationswissenschaft. Er ist seit Juni 2019 Fellow im Projekt „netPOL – Internationales und interuniversitäres Netzwerk Politische Kommunikation“ und leitet seit Juni 2020 das Projekt „Nachhaltigkeit – Wen interessiert’s?“ Ebenso leitet er seit März 2020 das Zentrum für Politische Kommunikation. Zu seinen Forschungsinteressen zählen die Transformation der politischen Öffentlichkeit durch Digitalisierung und Unterhaltung und die Kommunikation von Nachhaltigkeitsthemen in Theorie und Empirie.

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Vierundvierzig Milliarden US-Dollar war der Unternehmer Elon Musk bereit für den Kauf der Social-Media-Plattform Twitter zu bezahlen. Der Preis ist gerechtfertigt. Twitter stellt eine der zentralen Plattformen der öffentlichen Kommunikation der Gegenwart dar, ist Teil der globalen politischen Öffentlichkeit und wird von zahlreichen Privatpersonen, Politikerinnen und Politikern, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, öffentlichen Einrichtungen sowie NGOs genutzt. Twitter bietet jedem Nutzenden das Potenzial, mit einer globalen Öffentlichkeit in Kontakt zu treten und für sich und die eigenen Themen und Meinungen Aufmerksamkeit zu schaffen.


Man mag über die tatsächlichen persönlichen und wirtschaftlichen Gründe von Elon Musk für den Kauf der Plattform spekulieren. Vordergründig lautete seine Aussage, er habe die Plattform erworben, um genau diese Meinungsfreiheit zu stärken. Dies ist aus mehreren Gründen spannend wie merkwürdig: So fühlte sich Musk in der Vergangenheit in seiner eigenen Meinungsfreiheit auf Twitter beschränkt und beschwerte sich dort wiederholt über Algorithmen, die verhindern würden, dass seine Meinung gehört wird. Eine eigens unter seinen Followerinnen und Followern gestartete Umfrage dazu stützte seinen Verdacht.


Während andere Milliardäre wie Donald Trump ein eigenes neues soziales Netzwerk gründen, um sich bei den eigenen Anhängerinnen und Anhängern weiter Gehör zu verschaffen, erwirbt Musk ein lebendiges Kommunikationssystem mit einer weltweit aktiven und diversen Nutzerschaft. Der Kauf von Twitter behebt also ein persönliches Problem, wirft dabei aber die Frage auf, was dies für die generelle Idee von Meinungsfreiheit – jenseits der Meinungsfreiheit von und für Musk – auf einer für die politische Öffentlichkeit relevanten Plattform wie Twitter unter der Leitung von Elon Musk bedeutet.

Twitter dürfte bald einer einzigen Person gehören: Tech-Milliardär Elon Musk, dem reichsten Menschen der Welt. Der Verwaltungsrat des sozialen Netzwerks gab seinen Widerstand gegen Musks Übernahme Ende April nach kurzer Zeit auf. Der Tesla-Chef musste dafür nicht einmal das Gebot erhöhen – es reichte schon, dass er Finanzierungszusagen über 46,5 Milliarden Dollar auf den Tisch legte. Jetzt müssen genug Twitter-Aktionäre Musk ihre Anteile verkaufen, damit er die Kontrolle übernehmen kann. Musk hält bereits rund 9 Prozent am Unternehmen; beide Seiten gaben sich Zeit bis Ende des Jahres, um den Verkauf abzuschließen. Was genau Musk mit Twitter anfangen will, ist bislang unklar. Der Tech-Visionär schlug bei seinen Erklärungen für den Übernahmedrang allerdings große Töne an. Es gehe hier nicht um Geld, sondern darum, die Redefreiheit auf der Plattform zu stärken, sagte er. Das sei nur möglich, wenn der Kurznachrichtendienst die Börse verlasse. Seine Vorstellung von Redefreiheit umriss Musk so: „Wenn jemand, den man nicht mag, etwas sagen darf, was man nicht mag.“ Im Rahmen der Gesetze sollten alle Meinungen erlaubt sein.
Twitter dürfte bald einer einzigen Person gehören: Tech-Milliardär Elon Musk, dem reichsten Menschen der Welt. Der Verwaltungsrat des sozialen Netzwerks gab seinen Widerstand gegen Musks Übernahme Ende April nach kurzer Zeit auf. Der Tesla-Chef musste dafür nicht einmal das Gebot erhöhen – es reichte schon, dass er Finanzierungszusagen über 46,5 Milliarden Dollar auf den Tisch legte. Jetzt müssen genug Twitter-Aktionäre Musk ihre Anteile verkaufen, damit er die Kontrolle übernehmen kann. Musk hält bereits rund 9 Prozent am Unternehmen; beide Seiten gaben sich Zeit bis Ende des Jahres, um den Verkauf abzuschließen. Was genau Musk mit Twitter anfangen will, ist bislang unklar. Der Tech-Visionär schlug bei seinen Erklärungen für den Übernahmedrang allerdings große Töne an. Es gehe hier nicht um Geld, sondern darum, die Redefreiheit auf der Plattform zu stärken, sagte er. Das sei nur möglich, wenn der Kurznachrichtendienst die Börse verlasse. Seine Vorstellung von Redefreiheit umriss Musk so: „Wenn jemand, den man nicht mag, etwas sagen darf, was man nicht mag.“ Im Rahmen der Gesetze sollten alle Meinungen erlaubt sein.

Die Idee der Meinungsfreiheit ist ohne Anknüpfung an die Idee der Demokratie undenkbar. Erst in diesem politischen System verteilt sich die politische Macht temporär begrenzt auf alle Bürgerinnen und Bürger. Kommunikation ist treibende Kraft eines sogenannten deliberativen Verständnisses von Demokratie: Politische Entscheidungen werden durch den Austausch von Argumenten getroffen, wobei jede Bürgerin und jeder Bürger das Recht hat, kommunikativ an diesen Prozessen mitzuwirken. Damit eine gute kollektiv bindende Entscheidung getroffen werden kann, muss die Freiheit zu sprechen und eine eigene Position entwickeln und vertreten zu können auch gewährleistet sein. Die kommunikative Sphäre der Öffentlichkeit ist dann das demokratische Instrument des Austauschs und der Beratschlagung.


Einschränkungen der Meinungsfreiheit sind nach dem Historiker und Publizisten Timothy Garton Ash prinzipiell zu vermeiden, damit diesem Ideal auch entsprochen werden kann. Anstelle von rechtlichen Vorschriften, die eindeutig vorschreiben, was zulässig ist, sieht er von den Bürgerinnen und Bürgern selbst aufgestellte Normen als bessere Regelungsinstrumente. Diese entscheiden aktiv und kontextabhängig darüber, ob ein Thema oder eine Position zulässig ist oder nicht.


Diese unter anderem von Sozialphilosophen wie Jürgen Habermas als „ideal“ beschriebene Sphäre der Öffentlichkeit stellt sich in der Realität unterschiedlich dar: Es basiert auf der Grundidee eines Gesprächs unter persönlich versammelten anwesenden Personen. Dies ist auch in der Gegenwart noch gegeben. Massenmedien und digitale Kommunikationsplattformen wie Twitter sind allerdings ebenfalls Teile der Öffentlichkeit und damit prinzipiell Instrumente der kollektiven Entscheidungsfindung. Auch hier ist die Idee der Meinungsfreiheit anwendbar, trifft aber auf neue Probleme.


So sind digitale Kommunikationsplattformen im Gegensatz zu Massenmedien global zu denken. Sie schließen (zumindest potenziell) Nutzende aus unterschiedlichen nationalen, politischen, kulturellen, ökonomischen, religiösen und anderen Kontexten ein. Eine Äußerung aus einem bestimmten Kontext heraus kann schnell missverstanden werden. Daher bedarf es für diese Plattformen bestimmter Regeln, die sich genau dieser Herausforderung stellen müssen – offen für alle Positionen zu sein, aber auch Ausschlussmöglichkeiten in begründeten Ausnahmen zu bieten. Diese werden in den Gemeinschaftsstandards niedergelegt und im aktiven Umgang der Nutzenden miteinander immer neu verhandelt.

Dieses sehr komplexe Problem wird von Elon Musk und auch seinen Anhängerinnen und Anhängern, aber auch von Journalisten und Journalistinnen recht einfach gelöst: Vertreten wird hier ein naiver Begriff von Meinungsfreiheit im Sinne eines „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“ und eines „Meine-Meinung“-Sagens, während man erbost die Arme vor der Brust verschränkt. Diese Vorstellung von Meinungsfreiheit impliziert, dass nicht nur alles gesagt werden kann, sondern dass andere unbedingt auf das Gesagte hören und es am besten auch noch befolgen müssen. Dies impliziert bis zu einem gewissen Grad auch, dass man es eben besser weiß und diese Wahrheit (ungefragt) nun offen ausspricht.


Verkannt wird hierbei aber, dass Meinungsfreiheit nicht nur eine Freiheit des Sprechens, sondern auch eine Freiheit des Hörens ist. Nur weil etwas gesagt wird, entsteht für andere nicht die Pflicht, darauf auch zu hören. Redefreiheit muss gerade auf globalen Plattformen auch die Hörfreiheit der anderen mitdenken. Und die Sprechenden müssen es aushalten, dass sie potenziell nicht gehört werden, auch wenn die eigene Position nach eigener Überzeugung hörenswert ist.


Mit der Idee der Meinungsfreiheit geht auch die Idee einher, dass diese auf dem metaphorischen Marktplatz beziehungsweise an der „village pump“, wie Musk es formuliert, geäußert und gehört wird. Der Verweis auf einen Marktplatz, auf dem sich alle am „einzigen Dorfbrunnen“ versammeln, impliziert eine Art von deliberativem Feilschen um den besten Meinungspreis, der sich aus Angebot und Nachfrage ergibt. Das Bild des munteren Schacherns und Feilschens kommt aber schnell an seine Grenze: Es verweist auf eine romantische Vorstellung einer Zeit, in der alle relevanten Personen und ihre Themen auf einen einzigen Ort reduziert werden konnten und alle angepriesenen Meinungswaren auch ihre Abnahme fanden.


Diese Vorstellung muss mindestens in den Plural gesetzt werden: In der digitalen Kommunikationswelt gibt es viele Märkte für unterschiedliche Themen und Positionen, die teilweise miteinander verbunden sind, teilweise aber auch für sich stehen und sehr exklusive Themenwaren anbieten. Twitter ist dann zwar ein sehr großer Marktplatz, der aber sehr viele kleinere Marktplätze beinhaltet (die durch Hashtags gefunden werden können) und die auch auf andere Marktplätze (andere Social-Media-Kanäle und Massenmedien) verweisen. Ein einziger Markt für alles – oder eben eine einzige Quelle, aus der alle zapfen – sind keine gute Beschreibung für die Gesellschaft der Gegenwart.

Dies verweist aber auch auf einen Konflikt verschiedener Gesellschaftsbilder, die hinter der Marktmetapher stehen. Die Annahme eines einzelnen Marktplatzes – und damit einer einzelnen Öffentlichkeit – deutet auf ein zentralistisch organisiertes Weltbild, dass im Kern von verschiedenen Institutionen zusammengehalten wird, die Funktionen für „die Gesellschaft“ übernehmen. So ermöglicht der Markt – und ausschließlich der Markt – die Preisfindung. Kollabiert der einzige Markt und versiegt die einzige Quelle, dann muss auch die umgebende Gesellschaft leiden.


Diskussionen über das Politische und andere gesellschaftlich relevante Themen finden aber auch auf der Arbeit, in der Freizeit, in der Familie oder im Freundeskreis statt und spielen ebenfalls eine Rolle für die öffentliche Meinungsbildung. Lediglich auf den Marktplatz zu schauen, wäre einschränkend. Das Netzwerk der Menschen in der Gesellschaft muss daher auch integriert werden. Beachtenswert sind aber die verschiedenen Grade von Meinungsfreiheit, die sich hieraus ergeben – im Freundeskreis sind andere Meinungen zulässig als auf der Arbeit oder eben in der Weltöffentlichkeit von Twitter.


Grundsätzlich sind die Ideen der Meinungsfreiheit, der politischen Öffentlichkeit und der Demokratie komplexer, als sie von Elon Musk beschrieben werden. Auch die Plattform Twitter ist nicht der alleinige Ort, in der politische Kommunikation derzeit stattfindet – auch wenn journalistische und wissenschaftliche Berichte dies oft vermitteln. Aber sie bleibt ein prominenter, einfach zugänglicher und niederschwellig und weltweit nutzbarer Ort, der deswegen mit Blick auf die zukünftige Entwicklung beobachtet werden muss.

Dass der Kauf von Twitter also die Meinungsfreiheit von Elon Musk, oder besser seine Meinungsäußerungsmöglichkeiten stärkt, ist fraglos. Die Manipulation der Öffentlichkeit durch Musk allein ist aber unwahrscheinlich, zu komplex ist auch die Eigendynamik seiner neuen Plattform und ihrer Nutzenden. Allerdings ist er jetzt in der Verantwortung für ein wichtiges Instrument einer weltumspannenden Öffentlichkeit, das mit 436 Millionen Nutzerinnen und Nutzern mehr weltweit verteilte „Einwohnende“ hat als die USA – das nach der Einwohnerzahl gemessen drittgrößte Land der Erde kommt auf 318 Millionen Menschen.


Denkt man die Idee der Meinungsfreiheit auf dieser Basis weiter, dann ist sie immer auch ein Kontrollinstrument der Bürgerinnen und Bürger gegen die Herrschenden. Dies setzt aber auch Informationsfreiheiten und ein Right to know voraus: Die Prozesse und Mittel der Herrschaft müssen offengelegt werden. Musk scheint hier eine entsprechende Richtung einzuschlagen: So will er „den“ Algorithmus von Twitter offenlegen und dadurch auch aufzeigen, wie öffentliche Kommunikation in der Gegenwart gestaltet wird. Er wird sich aber auch den Meinungen seiner Nutzerinnen und Nutzer auf dieser Plattform stellen müssen. Auf sie nicht zu hören, ist zwar sein persönliches Recht, allerdings seine Pflicht als Eigentümer einer der zentralen Plattformen der Öffentlichkeit.

Titelbild: 

| Akshar Dave / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Bilder im Text: 

| Tumisu / Pixabay.com (CC0 Public Domain) | Link

| Edgar Moran / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Beitrag (redaktionell unverändert): Dr. Martin R. Herbers

Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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