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Ermöglicht durch ein Vollstipendium, studierte Joseph Oertel „Politik, Verwaltung & Internationale Beziehungen“ an der Zeppelin Universität. Dabei setzte er sich besonders mit Ursachen globaler Ungerechtigkeiten, Grenzregimen und solidarischem Aktivismus auseinander. Parallel zu seinem Bachelorabschluss begann er ein Medizinstudium an der Universität Leipzig, welches er für einen Master in Forced Migration & Refugee Studies an der University of Oxford pausiert. In seiner Bachelorarbeit mit dem Titel „Pictorial Boundaries – Exclusionary effects of stereotypic visual representations of refugees” untersuchte er Effekte einer visuellen stereotypischen Darstellung von Geflüchteten.
Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) und internationale Organisationen (IOs) sind wichtige Akteure in der Informationsverbreitung über Geflüchtete. Insbesondere durch aufwendige Fundraising-Kampagnen schaffen sie es, dass eine große Bandbreite der Gesellschaft mit visuellen Darstellungen von Geflüchteten in Kontakt kommt.
Viele Aktivisten, Journalistinnen und Forscher sehen besonders NGOs und IOs in der Verantwortung, ein Bild von Geflüchteten kreiert zu haben, das in erster Linie von Vulnerabilität und Passivität statt von Kompetenz und Aktivität ausgeht. Dabei wird nicht nur kritisiert, dass die in den Bildern dargestellte Hilflosigkeit vor allem dazu dient, um Spendengelder zu erhalten beziehungsweise sich als prominente Vertreter der „vulnerabelsten der Vulnerablen“ zu inszenieren, sondern dass Geschlechterstereotype reproduziert werden, um diese Hilflosigkeit überhaupt darstellen zu können.
Diese Stereotype haben vielfältige negative Konsequenzen: In vielen humanitären Kontexten wird die Vulnerabilität von jungen geflüchteten Männern übersehen, die oftmals ein höheres Risiko haben, gefoltert oder zwangsrekrutiert zu werden. Generell sind Menschen in Europa weniger bereit, männliche Geflüchtete aufzunehmen. Die Hierarchisierung von Geflüchteten, die Asyl und humanitäre Hilfe für einen kleinen Teil der Gruppe im Gegensatz zu einer anderen Gruppe legitimiert, schwächt das Asylsystem als Ganzes und wird daher auch gerne von rechten Akteurinnen und Akteuren aufgegriffen (beispielsweise „echte Flüchtlinge aus der Ukraine“ vs. „unechte aus Afrika“).
Gleichzeitig nutzt die Europäische Union das Narrativ von hilflosen, passiven, weiblichen Geflüchteten, um zu argumentieren, dass es im Interesse der Geflüchteten sei, wenn die EU gegen die Schmugglernetzwerke vorgeht, denen die Geflüchteten als hilflose und passive Akteurinnen und Akteure ausgeliefert seien. Ebenso führt dieses Bild von Geflüchteten zu der paradoxen Situation, dass – obwohl die EU-Kommission davon ausgeht, dass die momentane Migrationsbewegung nach Europa nicht groß genug ist, um wirtschaftliche Folgen des demografischen Wandels langfristig auszugleichen – die wirtschaftliche Kompetenz von Geflüchteten weiterhin kaum Beachtung findet, sondern eher negativ bewertet wird.
So ist der Begriff des „Wirtschaftsflüchtlings“, der aktiv Entscheidungen trifft, um sich eine wirtschaftliche Perspektive zu schaffen, negativ konnotiert und nur schwer mit unserem impliziten Bild des Geflüchteten als passive, vulnerable, auf Hilfe wartende Person vereinbar. Zudem nutzen humanitäre Organisationen das Narrativ der hilflosen Geflüchteten, um sie effektiv von Entscheidungsprozessen auszuschließen und ihre Meinung zu infantilisieren und zu delegitimieren.
Einige kritische Migrationsforscherinnen und Migrationsforscher argumentieren daher, dass der Fokus auf die Vulnerabilität von Geflüchteten dazu führt, dass insgesamt weniger Flüchtende nach Europa kommen können, da sie generell eher als wirtschaftliche Belastung und als volkswirtschaftlicher Nachteil wahrgenommen werden. Das experimentelle Design der Bachelorarbeit untersucht genau dieses Argument quantitativ empirisch.
Dabei konnte ein bereinigtes repräsentatives Sample von insgesamt 404 Probandinnen und Probanden genutzt werden, die an einem Online-Experiment teilgenommen haben. Zusammengefasst bestand das Experiment aus zwei randomisierten Gruppen, der entweder vier Bilder von Geflüchteten aus einer stereotypischen Vulnerabilitätsperspektive gezeigt wurden (195 Teilnehmende) oder aus einer Kompetenzperspektive (209 Teilnehmende). Die Bilder wurden nach qualitativ interpretativen Methoden ausgewählt, wobei die Bilder aus der Vulnerabilitätsdarstellung alle vom UNHCR-Archiv stammen.
Zu jedem Bild haben die Probandinnen und Probanden angeben, wie aktiv, hilflos, gebildet, kompetent, willensstark, fortschrittlich und warmherzig sie die Personen in den Bildern wahrnehmen. Anschließend wurde in einem Fragebogen – neben weiteren Fragen – abgefragt, ob die Teilnehmenden Geflüchtete als wirtschaftliche Belastung oder Chance wahrnehmen und ob sie dafür sind, dass mehr Geflüchtete nach Europa kommen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Vulnerabilitätsdarstellungen im Vergleich zu den Kompetenzdarstellungen einen signifikanten Effekt auf die Wahrnehmung von Geflüchteten als weniger aktiv, kompetent, willensstark, gebildet, fortschrittlich und autonom haben. Dies steht in einem statistischen Zusammenhang zu der Wahrnehmung von Geflüchteten als wirtschaftliche Belastung und einer Verminderung der Bereitschaft, Geflüchtete aufzunehmen.
Allerdings muss an dieser Stelle klar betont werden, dass sich die Hypothese, dass die Bilder einen statistischen Effekt auf die Bereitschaft haben, Geflüchtete aufzunehmen, nicht durch die Daten belegen lässt. Hier ist der empirische Zusammenhang komplexer als von diversen wissenschaftlichen Aufsätzen bisher angenommen. Es kann vermutet werden, dass Menschen mit negativen Einstellungen gegenüber Geflüchteten diese auch als generell weniger kompetent in Bildern wahrnehmen und der Effekt in dieser Richtung kurzfristig überwiegt. Um an dieser Stelle besser zu verstehen, wie sich verschiedene Darstellungen langfristig nicht nur auf direkte Wahrnehmungen auswirken, sondern auch auf Einstellungen, bräuchte es umfangreichere Panelstudien.
Als praktische Implikation geht aus dieser Untersuchung hervor, dass NGOs und IOs in ihren Darstellungen von Geflüchteten versuchen sollten, die Diversität der Gruppe zu berücksichtigen, dem Wunsch der Geflüchteten nach nicht-einseitiger Darstellung nachzukommen, paternalistische, geschlechterstereotypische und abhängigkeitsorientierte Abbildungen zu vermeiden, mehr als nur Mitleid für Geflüchtete bei den Adressaten ihrer Kampagnen zu wecken sowie ihre eigene Rolle im Kontext der „humanitarian borders“ zu hinterfragen.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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| Amir Arabshahi / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Beitrag (redaktionell unverändert): Joseph Oertel
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm