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Welche internationalen Akteure sind beim Thema Flucht und Migration von zentraler Bedeutung?
Prof. Dr. Andrea Schneiker: Was macht denn die Zentralität eines Akteurs aus? Hier sind unterschiedliche Kriterien denkbar, unter anderem Betroffenheit, Handlungsmacht, formale Zuständigkeit. Doch nicht alle Akteure vereinen alle diese Kriterien auf sich. Wenn Geflüchtete auf das Territorium der EU einreisen, dann ist der entsprechende EU-Mitgliedsstaat zum Beispiel verpflichtet, einen Anspruch auf Asyl zu prüfen. Doch nicht alle EU-Staaten kommen dieser Verpflichtung nach – auch kommen nicht alle EU-Mitgliedstaaten der Verpflichtung nach, Geflüchtete auf ihrem Territorium menschenrechtskonform unterzubringen und zu versorgen. Diese Aufgabe wird dann von anderen Akteuren übernommen wie internationalen Regierungs- oder Nichtregierungsorganisationen. Oder nehmen Sie das Beispiel der Seenotrettung im Mittelmeer: Auch hier sind die Staaten in der Verantwortung, doch wird diese Aufgabe hauptsächlich von Nichtregierungsorganisationen übernommen, die für diese Tätigkeit von Staaten sogar kriminalisiert werden. Das sind alles Beispiele dafür, dass zuständige Akteure aufgrund bestimmter Interessen (nicht) handeln und dafür andere, die nicht unbedingt formal zuständig sind, tätig werden.
Sie erklären, zwischen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und dem Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) gäbe es deutliche Spannungen. Worin bestehen diese?
Schneiker: Zwischen beiden Organisationen gibt es Unterschiede in der Entstehungsgeschichte und dem Mandat. Der UNHCR – von Beginn an eine Organisation der Vereinten Nationen, die nicht dem direkten Zugriff einzelner Staaten untersteht – hat das Mandat, die Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention zu überwachen und legt daher den Fokus auf den Schutz von Flüchtlingen. Daraus leitet der UNHCR den Anspruch ab, deren Rechte zu vertreten – auch gegen die Interessen von Staaten. Die IOM hingegen beziehungsweise deren Vorgängerorganisation – das International Committee for European Migration (ICEM) – wurde als Organisation westlicher Staaten zur Verteilung von Migrant:innen aus Europa heraus in andere Länder und nicht zum Schutz mobiler Personen gegründet. Entsprechend wird der IOM im Unterschied zum UNHCR eine fehlende Kritik an der Politik der Mitgliedsstaaten nachgesagt.
Die Organisationen selbst haben es nicht leicht: Menschen flüchten vor politischer Verfolgung, doch Staaten sind nur begrenzt aufnahmefähig. Zudem ist nicht jeder, der aus einer prekären Situation entkommen will, auch ein Flüchtling. Sind in diesem Dilemma nicht Spannungen vorprogrammiert?
Schneiker: Diese Frage halte ich für gefährlich. Der limitierende Faktor ist nicht die Aufnahmefähigkeit, sondern die Aufnahmebereitschaft. Darüber hinaus haben unterschiedliche Akteure unterschiedliche Interessen, die sie mit unterschiedlichen Mitteln verfolgen und die nicht immer in Einklang zu bringen sind.
Sie wollen jetzt untersuchen, wie sich die Spannungen auf die Arbeit der Organisationen mit Flüchtlingen auswirken. Wie wollen Sie dabei vorgehen? Und mit welchen Annahmen starten Sie in Ihre Forschung?
Schneiker: Ich möchte untersuchen, inwiefern IOM und UNHCR unterschiedliche oder ähnliche Interessen und Ziele haben und inwiefern sie unterschiedlich oder ähnlich vorgehen, um diese zu erreichen. Organisationen sind aber keine homogenen Gebilde. Es ist daher denkbar, dass es nicht nur zwischen Organisationen, sondern auch innerhalb der Organisationen Unterschiede gibt. So ist zum Beispiel vorstellbar, dass sich die Vorgaben auf zentraler Ebene zwischen den Organisationen unterscheiden, von den Mitarbeiter:innen vor Ort aber ähnlich umgesetzt werden. Um dies zu untersuchen, schaue ich mir die relevanten Dokumente der Organisationen an und plane Interviews mit einzelnen Mitarbeiter:innen.
Besonders im Blick sollen dabei internationale Normen stehen – und die Frage, ob diese im Sinne von Staaten oder Flüchtlingen interpretiert werden. Können Sie das an einem Beispiel erklären?
Schneiker: Ein zentraler Normkonflikt auf internationaler Ebene ist der zwischen Menschenrechten einerseits und staatlicher Souveränität andererseits. Der Widerspruch zwischen beiden wird immer dann deutlich, wenn in einem Staat Menschenrechte massiv verletzt werden, dieser Staat aber ein internationales Eingreifen mit Verweis auf seine Souveränität ablehnt, wie es seit Jahren im Fall Syrien deutlich wird.
Was mein Projekt angeht, so können internationale Organisationen wie IOM und UNHCR internationale Normen, die in der Regel Interpretationsspielraum erlauben, unterschiedlich auslegen: zum Beispiel entweder im Interesse von Geflüchteten oder im Interesse von Staaten. Humanitäre Hilfe und deren grundlegende Prinzipien können zum Beispiel im Sinne der Rechte und Bedürfnisse von Geflüchteten interpretiert und umgesetzt oder im Sinne staatlicher Interessen politisiert und instrumentalisiert werden.
Im Fokus der Untersuchung sollen transregionale Vergleiche in Griechenland und Kenia stehen. Warum haben Sie diese beiden Länder ausgewählt?
Schneiker: Zum einen ergibt sich die Fallauswahl aus dem größeren Forschungskontext, in welches das Vorhaben eingebettet ist. Das Projekt ist Teil einer ganzen Forschungsgruppe, die aus mehreren Projekten besteht und für die mit Migration verbundene Politiken innerhalb der EU eine große Rolle spielen. Vor diesem Hintergrund interessiere ich mich dafür, ob die Organisationen in Europa – einer Region, aus der viele einflussreiche Mitgliedsstaaten stammen – anders vorgehen als außerhalb Europas. Zum anderen hat die Auswahl der Länder forschungspragmatische Gründe: In beiden Ländern sind beide zu untersuchenden Organisationen aktiv.
Welche Erkenntnisse erhoffen Sie sich aus dem Forschungsprojekt – und wie könnten diese in die praktische Arbeit internationaler Organisationen einfließen?
Schneiker: Zum einen möchte ich herausfinden, ob die beiden Organisationen unterschiedliche Politiken verfolgen oder nicht. Wie verstehen die beiden Organisationen zum Beispiel die Gender Mainstreaming Norm? Als reine Frauenförderung oder werden auch LGTBQI+ Bedürfnisse und Interessen berücksichtigt? Zum anderen möchte ich mögliche Erklärungen für die identifizierten Unterschiede oder Gemeinsamkeiten finden. Wenn bestimmte Politiken trotz unterschiedlicher Vorgaben aus den Hauptquartieren der Organisationen von den Mitarbeiter:innen vor Ort ähnlich umgesetzt werden, könnte dies unter anderem auf einen fehlenden Einfluss der Hauptquartiere auf die Arbeit vor Ort hinweisen oder das Ergebnis der organisationsübergreifenden Kooperation der Mitarbeiter:innen vor Ort sein.
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm