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Prof. Dr. Heribert Dieter ist seit 2021 Gastprofessor für internationale politische Ökonomie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen am Bodensee, nachdem er diese Gastprofessur bereits von 2013 bis 2019 bekleidet hatte. Seit 2017 ist er zudem außerplanmäßiger Professor an der Universität Potsdam. Zuvor war er Gastprofessor an der University of Hong Kong. Dieter wurde 1961 geboren und forscht zu internationalen Wirtschaftsbeziehungen an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Er studierte von 1983 bis 1989 Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre an der FU Berlin, wo er 2005 auch seine Habilitation ablegte. Zu seinen aktuellen Forschungsvorhaben zählen die Untersuchung von Reformoptionen für die internationalen Finanzmärkte, die Analyse der Perspektiven der Europäischen Währungsunion und monetärer Kooperation in Asien sowie die Betrachtung der Position Deutschlands in der Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts.
Vor einem Vierteljahrhundert begann mit der Abwertung des thailändischen Baht eine große Finanzkrise, in deren Verlauf eine ganze Region erschüttert wurde. Die Asienkrise war nur von sehr wenigen Beobachtern prognostiziert worden und traf die Menschen in den betroffenen Volkswirtschaften mit besonderer Wucht. Im Rückblick überrascht, dass die Regierungen insbesondere der Industrieländer aus den Turbulenzen keine Schlüsse zogen und eine Reform der Finanzmärkte unterließen. Zugleich markiert die Krise der Jahre 1997 und 1998 den Beginn des Niedergangs globaler Regulierung der Finanzmärkte. Asiatische Regierungen waren von den USA und anderen westlichen Industrieländern enttäuscht, weil ihnen keine angemessenen Hilfen angeboten worden waren.
Wie bei den meisten Finanzkrisen war auch in Südost- und Ostasien vor den Turbulenzen eine weitverbreitete Euphorie zu beobachten. Die Weltbank hatte 1993 einen Bericht zur wirtschaftlichen Entwicklung asiatischer Volkswirtschaften von 1965 bis 1990 veröffentlicht. Der Bericht trug den Titel „Das ostasiatische Wunder“ und beschleunigte die Kapitalzuflüsse in asiatische Volkswirtschaften, die anhaltend hohes Wachstum, politische Stabilität und hohe Erträge versprachen. Politiker in asiatischen Ländern berauschten sich an den bisherigen Erfolgen und blendeten mögliche Risiken aus. Warum auch: Thailand etwa erzielte zwischen 1972 und 1996 jedes Jahr reale Wachstumsraten von mindestens 5 Prozent.
Für ausländische Investoren war es entscheidend, die Party nicht zu verpassen. Wie zehn Jahre später bei der amerikanischen Immobilienkrise ließen sich ausländische Investoren mitreißen und vergaben große Kredite in asiatische Länder. In der Asienkrise waren typische Muster von Finanzkrisen zu beobachten: Zunächst bauen sich unrealistische Erwartungen auf, die anschließend revidiert werden und zu einer Krise führen.
Der US-Ökonom Hyman Minsky hatte 1977, als Finanzkrisen seltener und in schwächerer Form als heute zu beobachten waren, festgestellt, dass diese systembedingt sind und keine zufälligen Ereignisse. Die in Boomzeiten zu beobachtenden Mechanismen sind leicht zu beschreiben. Sowohl bei den Kreditnehmern als auch bei den Kreditgebern steigen die Erwartungen an die künftige wirtschaftliche Entwicklung. Da ein starkes Wachstum erwartet wird, steigen die Investitionen. Diese Prozesse verstärken sich selbst. Kühle Kalkulation wird abgelöst durch das von Euphorie geprägte Ausblenden von Risiken. Das Finanzsystem wird instabil.
Auch in den Krisenländern Asiens wuchs in den Neunzigerjahren die Bereitschaft, im Ausland Kredite aufzunehmen, um Investitionen im Inland zu finanzieren. 1997 aber drehte der Wind: Unter ausländischen Investoren brach Panik aus, die ebenso ansteckend wirkte wie zuvor die Euphorie. Die Versuche, Kapital aus den Krisenländern abzuziehen, verstärkten die Krise. Ähnlich wie in einem voll besetzten Kino bei Feueralarm stürmten alle Gläubiger gleichzeitig zum Ausgang. Die Notenbanken der Krisenländer hatten nicht genug Devisen, um die Nachfrage zu stillen. Die Blase platzte.
Umstritten war das Verhalten des Internationalen Währungsfonds (IWF). Der IWF hätte den klammen asiatischen Volkswirtschaften große Kredite bereitstellen können, um den kurzfristig entstandenen Bedarf an Devisen zu stillen. Dieses Vorgehen hätte sich begründen lassen: Die drei im Zentrum der Turbulenzen stehenden Länder Thailand, Indonesien und Südkorea wiesen in den Jahren vor der Krise mäßige Inflationsraten und Überschüsse in den öffentlichen Haushalten auf. Der Fonds hat aber eine ganz andere Strategie verfolgt: Der damalige erste stellvertretende Direktor des IWF, Stanley Fischer, bezeichnete die Krise als „überwiegend hausgemacht“ („mainly homegrown“). Fischer behauptete damit, wirtschaftspolitische Fehler in den Krisenländern und nicht die volatilen Kapitalströme seien die Hauptursachen der Krise gewesen.
Mit der frühen Festlegung auf diese Sichtweise wurden auch die Hilfsmaßnahmen des IWF, der Weltbank und bilateraler Geber geprägt. Es ging bei der Krisenbekämpfung also nicht darum, die von Hyman Minsky beschriebenen strukturellen Schwächen von Finanzmärkten zu beheben, die Helfer aus Washington konzentrierten sich stattdessen auf die Neuordnung der asiatischen Volkswirtschaften. Bevor Hilfskredite flossen, mussten sich die Regierungen Thailands, Indonesiens und Südkoreas zu weitreichenden Reformen verpflichten. Auf die Präferenzen der gewählten Politiker wurde keine Rücksicht genommen.
Allerdings machte die Medizin des IWF die Krise nur noch schlimmer. Der Fonds verordnete drastische Leitzinserhöhungen, welche die Wechselkurse stabilisieren sollten, sowie schmerzhafte Kürzungen der öffentlichen Ausgaben, obwohl zuvor solide gewirtschaftet worden war. In den Krisenländern sorgte diese Politik für Verbitterung: In Südkorea heißt die Krise bis heute die „IWF-Krise“ und wird als zweiter Fall nationaler Schande bezeichnet. Der erste Fall war die Kolonisierung des Landes durch Japan im Jahr 1910.
Ebenso problematisch war, dass die US-Regierung Versuche Japans torpedierte, einen asiatischen Rettungsschirm bereitzustellen, der Kredite ohne weitreichende Auflagen vergeben hätte. Der damalige Finanzminister Robert Rubin und sein Staatssekretär Larry Summers sorgten dafür, dass Japan in der Region keine Unterstützer fand. Die amerikanische Regierung wollte den IWF, der ein Instrument der US-Außenwirtschaftspolitik war, nicht schwächen. Summers brüstete sich im April 1998 im amerikanischen Kongress damit, dass der IWF für die Vereinigten Staaten sowohl unabdingbar als auch kostenlos sei, weil die Krisenländer selbst die Rettungsprogramme finanzieren würden.
Zehn Jahre nach der Asienkrise wurde die Welt von der amerikanischen Finanzkrise erschüttert. Ähnlich wie in Asien hatten ausländische Investoren zu den irrationalen Übertreibungen auf den Finanzmärkten beigetragen. In Asien wuchs der Groll, denn man zog Vergleiche zwischen den beiden Krisen.
Die westlichen Industrieländer wendeten 2008 eine Medizin an, welche die gleichen Akteure den asiatischen Ländern zehn Jahre zuvor verweigert hatten. In den USA und in Westeuropa wurden massive Hilfen für die strauchelnden Kreditinstitute und Volkswirtschaften bereitgestellt. Einige wenige Ausnahmen, etwa der nicht verhinderte Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers, können nicht davon ablenken, dass damals in den OECD-Ländern eine völlig andere Krisenpolitik angewandt wurde als in Asien.
Diese Erfahrung bestärkte die Regierungen asiatischer Länder, ihre Erwartungen an von westlichen Staaten dominierte multilaterale Organisationen herunterzuschrauben. Südkorea etwa baute seine Währungsreserven massiv aus: 2020 verfügte Seoul mit 437 Milliarden Dollar über die neuntgrößten Reserven der Welt. Seit 1998 stiegen die koreanischen Reserven um rund 740 Prozent. Auch Singapur (362 Milliarden Dollar), Thailand (248 Milliarden) und Indonesien (131 Milliarden) verlassen sich heute lieber auf hohe Devisenreserven als auf den Internationalen Währungsfonds.
Die Asienkrise markiert deshalb den Beginn des Niedergangs multilateraler Finanzpolitik. Die USA setzten in der Krise eigene Interessen durch und sorgten für eine anhaltende Schwächung des IWF. Japan brachte ein überzeugendes Konzept ein, war aber nicht entschieden genug, dieses umzusetzen. Die Europäer schenkten den Beteuerungen des IWF, die Krise sei das Ergebnis asiatischer Vetternwirtschaft, Glauben und unternahmen keine eigenen Untersuchungen.
Vor allem unterblieb eine gründliche Beschäftigung mit der Instabilität der Finanzmärkte. Die Krisen 2007/08 sowie die folgenden Krisen in Europa wären weniger dramatisch ausgefallen, wenn die Finanz- und Geldpolitiker die Entwicklungen auf den Finanzmärkten skeptischer betrachtet hätten.
Immer wieder ließ sich die Politik von Marktteilnehmern blenden, die behaupteten, dieses Mal sei alles anders. Auch die nun mit Paukenschlägen zu Ende gehende Ära der Nullzinspolitik der großen Notenbanken war im Kern eine nicht zu rechtfertigende Politik der Begünstigung von Investoren, die ihre Geschäfte nahezu kostenlos finanzieren konnten. Die Notenbanker blendeten die Folgen dieser Politik, insbesondere die Effekte auf Vermögenspreise, weitgehend aus. Nun werden hektisch die geldpolitischen Fehler der letzten Dekade korrigiert.
Auch 25 Jahre nach Ausbruch der Asienkrise fehlen in der Geld- und Finanzpolitik offenbar Strategien, die eine nachhaltige Entwicklung ermöglichen.
Dieser Artikel ist am 15. September unter dem Titel „Als das Wunder den Bach runterging“ in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Heribert Dieter
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm