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Ein König voller Würde
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Zum Tod von Pelé

Ein König voller Würde

von Hans Ulrich Gumbrecht | Zeppelin Universität
04.01.2023
Anders als die in den Medien zu seinen potenziellen Nachfolgern erhobenen Spieler hat Edson Arantes do Nascimento seinen Königsrang bewahrt und jenseits Brasiliens, ja sogar jenseits des Fußballs zu einem globalen Status entwickelt.

Hans Ulrich Gumbrecht
Gastprofessur für Literaturwissenschaften
 
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    Zur Person
    Hans Ulrich Gumbrecht

    Der gebürtige Würzburger Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.

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Kaum zehn Jahre alt, hatte ich die meisten Spiele der deutschen Mannschaft als Titelverteidiger beim Fußballweltturnier 1958 vor dem gerade angeschafften Fernseher verfolgt und war bitter enttäuscht über die deutliche 1:3-Niederlage gegen die schwedischen Gastgeber im Halbfinale von Göteborg. Nur noch das Stockholmer Endspiel mit Brasilien am 29. Juli verblieb und mit ihm der mögliche Trosthorizont, wenigstens gegen den späteren Weltmeister ausgeschieden zu sein. Tatsächlich gingen die Schweden schnell in Führung, doch dann drehte sich das Spiel -- und verlor alle Spannung. Die Brasilianer schossen eine 4:1-Führung auf dem Weg zum 5:2-Endstand heraus – dem immer noch höchsten Finaltriumph in der Geschichte des Fußballs – und begeisterten mit einer Eleganz von Kombinationen, wie sie kein europäischer Beobachter zu einer Zeit je gesehen hatte, als man „über Kampf zum Sieg“ kommen wollte.

Doch nicht nur Fußball als „jogo bonito“, als „schönes Spiel“, wurde an jenem Tag geboren. Aus der unvergesslichen brasilianischen Mannschaft ragte mit zwei Toren, großartigen Vorlagen und unwiderstehlichen Dribblings ein 17-jähriger schwarzer Stürmer heraus, von dem bis dahin nur die Fans in seinem Heimatland gehört hatten. Nach dem Abpfiff wurde er ohnmächtig, um dann bald weinend den Empfang des FIFA-Pokals zu feiern. Pelé war sein Name in der Mannschaftsaufstellung, Edson Arantes do Nascimento stand in seiner Geburtsurkunde.

Namen haben ein besonderes Gewicht in der brasilianischen Kultur. Wie es dort noch heute viele Eltern tun, benannten Celeste Arantes und Joao Ramos do Nascimento – beide arm und ohne Bildung im Inland aufgewachsen – ihren ersten Sohn nach einem berühmten Protagonisten, dem amerikanischen Erfinder Thomas Edison, um dann später die Schreibung des Vornamens an seinen Klang im Portugiesischen anzupassen – und im festen Bewusstsein der Generationenabfolge gaben sie ihm auch ihre beiden Familiennamen weiter. Daneben haben Fußballer in Brasilien einen zweiten Namen. Joao Ramos do Nascimento hieß als Spieler Dondinho, während sein Sohn den spöttischen Spitznamen Pelé trug, den ihm seine Kollegen angehängt hatten, weil er sich so auf Bilé bezog, einen berühmten Torwart aus seiner Jugendzeit. Und als Pelé ist er in die Geschichte eingegangen, zunächst unter den monumentalen Fußballernamen der damals fünf Stürmer aus der Weltmeistermannschaft von 1958: Garrincha, Didi, Vavá, Pelé und Zagallo.

Doch allein Pelé gaben die Brasilianer noch einen dritten Namen, der lebenslang zu seinem Titel wurde. Seit der Rückkehr aus Schweden verehrten die Landsleute den jungen Mann als „O Rei“, als ihren König. Biographen und Historiker haben zurecht häufig betont, wie unwahrscheinlich dieser steile Aufstieg eines Afrobrasilianers aus der Unterschicht war, ohne allerdings in Rechnung zu stellen, dass sich damit ein zweifacher nationaler Traum erfüllte. Schon 1933 hatte der Anthropologe Gilberto Freire in seinem bald zum Klassiker kanonisierten Buch „Herrenhaus und Sklavenhütte“ die ebenso kühne wie seine Leser beeindruckende These aufgestellt, dass eine Tendenz zur enthierarchisierenden „Mischung von Rassen“ die Identität der brasilianischen Gesellschaft ausmache. Als schwarze Spieler der Nationalmannschaft, vor allem der ohne Schuhe antretende Leonidas da Silva, beim Weltturnier in Frankreich 1938 zum ersten Mal mit ihrem artistisch-athletischen Stil internationale Begeisterung erregten, wurde der Fußball zur Projektionsfläche für diese kollektive Lieblingsidee.

Daraus erwuchs auch die Erwartung eines Welttitels, die zunächst 1950 beim Endspiel in Rio de Janeiro vor 200.000 Zuschauern und dann noch einmal 1954 bei einem großartig-dramatischen Viertelfinale gegen Ungarn in Bern enttäuscht wurde, was erst den Stellenwert und die nationale Ekstase beim Titelgewinn von 1958 in Schweden mit einer Mehrzahl von schwarzen Spielern erklärt. Er verlieh Brasilien eine neue globale Prominenz, erhob für immer das interne Selbstgefühl und leitete ein halbes Jahrhundert Fußballdominanz mit fünf Welttiteln bis 2006 ein, die in einem nach 1800 als Kaiserreich begründeten Land offenbar eines Monarchen bedurfte. Angesichts seiner Jugend sensationell und zugleich selbstverständlich verkörperte der junge Pelé als Afrobrasilianer diese Rolle, wurde so zur konkretisierten Wirklichkeit der kollektiven Sehnsüchte und hat später als wahrhaft königliche Gestalt die brasilianische Epoche des Fußballs überlebt.

Dieser singuläre nationale Status lässt uns nachvollziehen, warum der Präsident seines Landes nach dem Tod Pelés eine dreitägige Staatstrauer ausrief. Schon seit langem hatte er aber auch als eine der großen globalen Figuren des vergangenen Jahrhunderts gegolten – auf dieser Ebene nun nicht mehr nur als Wirklichkeit gewordener Traum, sondern als zentrale Gestalt einer kulturellen Veränderung, deren Komplexität und Tiefe wir wohl noch nicht vollkommen nachvollzogen haben. Der 29. Juli 1958 war ja nicht allein Ursprungstag der brasilianischen Fußballgröße, sondern leitete einen Übergang der Zuschauerteilnahme am Sport generell hin zu ästhetischer Erfahrung ein. Wichtiger als der Sieg über den Gegner Schweden wurde – zum ersten Mal vielleicht – die individuelle und kollektive Schönheit des brasilianischen Spiels. So bewahrten Wettkampf und Sieg zwar ihre Bedeutung als notwendige Dimension aller Sportarten, verschoben sich jedoch vom Zentrum der Aufmerksamkeit hin zu der Funktion, Bedingung für Ereignisse von Schönheit und Erhabenheit zu sein.

Man mag es als historischen Zufall bewerten, dass jene Weltmeisterschaft in Schweden mit ihrem Durchbruch zur Schönheit auch der erste bedeutende Sportwettbewerb war, dem das Fernsehen eine zumindest europaweite Aufmerksamkeit in visueller Gleichzeitigkeit gab – obwohl die Übertragungen noch nicht nach Brasilien reichten, während dann die Livebilder vom Weltturnier 1962 in Chile den europäischen Fans entgingen. Als Glücksfall für die Geschichte des Sports schlechthin hat sich jedenfalls die Tatsache erwiesen, dass der Karrierebeginn eines Athleten mit dem singulären Talent und dem erstaunlichen Charakter Pelés auf diese Schwelle in der Mediengeschichte fiel. Noch zweimal gewann er als Kapitän der brasilianischen Mannschaft den Welttitel – 1962 und dann 1970 auf seinem späten sportlichen Höhepunkt – und brachte so die Wendung des Sports insgesamt zur Ästhetik auf die Bahn einer Synchronie mit seiner globalen Öffnung. Ohne Pelés Kunst hätte diese Medienexpansion zu ganz anderen Ergebnissen führen können, etwa zu einer Zuschauererfahrung ohne ästhetische Komponente.

Sein individuelles Fußballerprofil lässt sich nur schwer beschreiben, denn Pelé war in jeder Hinsicht herausragend. Als einer der wenigen Spieler aller Zeiten beherrschte er den Ball gleich perfekt mit dem linken und dem rechten Fuß. Er war antrittsschnell, ausdauernd und physisch durchsetzungsstark, setzte seine Mitspieler mit unvorhersehbar intelligenten Pässen ein, vermittelte ihnen Leidenschaft in schwierigen Momenten der Auseinandersetzung und ging selbst bei Freundschaftsspielen stets an die Grenze seines Leistungsvermögens. Als strategischer Lenker wirkte er ebenso entscheidend wie als Vollstrecker – in den 1.390 Spielen seiner Lebenszeit hat er 1.301 Tore erzielt. Doch selbst solche kaum glaubliche Marken aus den Statistiken, die sein Name auf allen Ebenen lange angeführt hat, können Pelés athletisches Charisma nicht erfassen, dessen einzelne Elemente letztlich in der Umpolung des Sports zu einer ästhetischen Praxis wirksam konvergierten.

Angesichts dieser Stellung an einer historisch entscheidenden Schwelle scheint es plausibel, dass einige andere Fußballgestalten aus seiner Generation im Schatten und in Freundschaft mit Pelé einen sozial, kulturell und sportlich ähnlichen Status erreicht haben. Zu ihnen gehört neben dem revolutionären Holländer Johan Cruyff auch Franz Beckenbauer aus der Münchner Arbeitervorstadt Giesing, der 1974 als Kapitän und 1990 als Trainer der deutschen Nationalmannschaft Weltmeister wurde. Ähnlich früh in seiner Karriere wie Pelé – zumal nach dem besten Spiel in der Geschichte der deutschen Mannschaft beim ersten Auswärtssieg gegen England 1972 – erhoben die Bewunderer auch ihn mit dem Namen „Kaiser“ zu einem symbolischen Adelsstand, der einer über jede Anstrengung erhobenen Schönheit seines Spiels entsprechen sollte. Doch anders als bei Pelé und verständlicherweise lag in dieser besonderen Kanonisierung keinesfalls die Erfüllung eines nationalen Wunschtraums, weshalb die deutschen Medien Franz Beckenbauer den – ohnehin aus der österreichisch-ungarischen Monarchie ausgeliehenen – Kaisertitel erfolgreich streitig gemacht haben.

Als Pelé 1975 bei Cosmos New York mit dem Mannschaftskollegen Beckenbauer seine Karriere – hoch bezahlt und so finanziell nach einigen Krisen saniert – abschloss, hatte die Fußballinstitution bereits auf die vom brasilianischen Stil ausgehende Ästhetisierung des Spiels mit einem Schub von Reflexionen und Theorien reagiert. Unmittelbar nach der Weltmeisterschaft von 1958 versuchten europäische Betreuer, dem Spiel der Südamerikaner eine abstrakte Formel abzugewinnen, um seine Überlegenheit im Vergleich zum europäischen Rezept des sogenannten „WM-Systems“ – zwei Verteidiger, drei Mittelfeldläufer, fünf Stürmer – zu identifizieren und kopieren zu können. Eine Zeit lang stand das 4-2-4 als angeblich brasilianische, den Spielern wohl kaum bewusste Strategie im Rang einer Lösung, ohne sich wirklich zu bewähren. Dann traten Trainer mit neuen Ideen auf, die vor allem in Italien die Aufmerksamkeit von der Schönheit des Spiels wieder auf vor allem defensive Effizienz lenken sollten. Doch trotz all ihrer Erfolge – speziell mit der Mannschaft von Inter Mailand – sind die Erwartung und Forderung des schönen Spiels nie mehr geschwunden.

Anders als die in den Medien zu seinen potenziellen Nachfolgern erhobenen Spieler – von Diego Maradona bis zu Cristiano Ronaldo oder Lionel Messi, die mehr Profil und eine andere Attraktivität als Pelé entfalteten, weil ihre Talente weniger ausgeglichen waren – hat Edson Arantes do Nascimento seinen Königsrang über all diese Veränderungen bewahrt und jenseits Brasiliens, ja sogar jenseits des Fußballs zu einem globalen Status entwickelt. Dass er sich nie als Trainer oder gar als Verbandspräsident versuchte, muss eine Bedingung für diese Permanenz gewesen sein.

Doch bald traten auch eine entspannte Freundlichkeit und ein eleganter Abstand gegenüber allen spezifischen Initiativen als Charakterzüge in den Vordergrund, die zuvor im Bild und in der Rolle des fairen Sportlers verborgen waren. Je weniger sich Pelé von den Mächtigen und den Institutionen seiner späteren Lebenszeit einspannen ließ, je weniger spezifische Meinungen er äußerte, desto substanzieller wurde seine aristokratische Präsenz. Nur einmal hatte er gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts für drei Jahre das Amt eines Sportministers unter dem konservativen Präsidenten Fernando Enrique Cardozo übernommen, ohne jedoch bei den politischen Antagonisten in Brasilien an Liebe und Respekt zu verlieren.

Denn Freundlichkeit und Distanz waren längst zur Würde fortgeschritten, zu einer Haltung und Gestalt, die über Irrtümer wie Fehler im Einzelnen erhaben sind. Noch vom Totenbett begleitete Pelé die Spiele seiner Nationalmannschaft beim Turnier in Katar mit elektronischen Botschaften, die allen Sportlern und der ganzen Weltmeisterschaft die Aura eben dieser persönlichen Würde vermittelten. Nun ist der letzte Aristokrat unserer postaristokratischen Gegenwart gestorben, und der Sport wird sehen müssen, wie er ohne seinen König auskommen kann.

Dieser Artikel ist am 02.01.2023 unter dem Titel „Der Durchbruch zur Schönheit“ in der WELT erschienen.

Titelbild: 

| World Economic Forum / E.T. Studhalter (CC BY-SA 2.0) | Link


Bild im Text: 

| Fotopersbureau De Boer / Noord-Hollands Archief (CC0 Public Domain) | Link


Beitrag (redaktionell unverändert): Hans Ulrich Gumbrecht

Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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