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Yannis Stavrakakis ist ein griechisch-britischer politischer Theoretiker. Als Mitglied der Essex School für Diskursanalyse ist er vor allem für seine Untersuchungen der Bedeutung der psychoanalytischen Theorie für die zeitgenössische politische und kulturelle Analyse bekannt.
Irgendetwas läuft falsch in der Populismusforschung, davon ist Yannis Stavrakakis überzeugt. 60 Prozent aller wissenschaftlicher Artikel über Populismus definieren das politische Phänomen, dem sie nachgehen, gar nicht weiter, und in den meisten wissenschaftlichen Büchern über Populismus ist zu einem Großteil oder gar ausschließlich von Rechtspopulismus die Rede. Populismus ist dadurch gerade im europäischen wissenschaftlichen und politischen Sprachgebrauch zum abwertenden Begriff geworden.
Dabei war der Populismus in den 1950er- und 1960er-Jahren mal ein durchaus positiv konnotiertes Konzept – versprach es doch, sich gegen Eliten zu wenden und dem einfachen Bürger ein politisches Mitspracherecht zu verschaffen. Auch außerhalb von Europa, so Stavrakakis, sei der Populismus nach wie vor keinesfalls verpönt. Er verweist dabei auf eine der letzten Reden, die Barack Obama in seiner Rolle als US-Präsident hielt: Obama betonte, dass nicht Trump, sondern er selbst ein wahrer Populist sei – denn Populist sein bedeute, sich für die schwachen und stimmlosen Mitglieder einer Gesellschaft einzusetzen.
Stavrakakis selbst erklärt die Kriterien, die eine politische Ideologie erfüllen muss, um als Populismus zu gelten, wie folgt: ein besonderer Fokus auf die Bevölkerung, ein moralisierter Blick auf die Politik und ein antagonistisches Verständnis der politischen Sphäre, das sich am besten anhand der Phrase „us vs. them“ verdeutlichen lässt. Angesichts jener Definition sei es nicht verwunderlich, dass die Rassemblement National-Politikerin Marine Le Pen auf eine Interviewfrage wie folgt reagierte: „Ich soll eine Populistin sein? Warum nicht!“ Klar: Als Populistin wird man lieber bezeichnet denn als Faschistin oder Nationalistin. „Why call them populists?“, fragt der in Thessaloniki lehrende Professor deshalb im Hinblick auf rechtsnationale Politiker und schlägt vor, zumindest den Ausdruck „populist right wing“ statt „right wing populist“ zu verwenden – die Emphase sei wichtig.
Was jenen „right wing populist“-Ansatz von einem linken Populismus unterscheidet, erklärt Stavrakakis anhand einer PowerPoint-Tabelle: Während linke Populisten die Bevölkerung, für die sie sich einsetze, vor allem als sozioökonomische „Underdogs“ betrachte, haben Rechtspopulisten ein exklusives Verständnis – Bevölkerung ist hier gleich Volk. Dementsprechend sind auch die politischen Antagonismen unterschiedlich: Bei den Linken geht es um einen vertikalen Konflikt zwischen Establishment und Bürger, bei den Rechten um einen horizontalen zwischen ethnischen Gruppen.
Nach der stark definitionsorientierten Keynote von Yannis Stavrakakis war Alexander Ruser an der Reihe. Den Einstieg in seinen Vortrag gestaltete er mithilfe zweier äußerst anschaulicher Beispiele für populistische Rhetorik. „Jump, you Fuckers!“, steht auf dem Schild, das eine betagte Demonstrantin 2008 – im Jahr der US-Finanzkrise – vor einem Wall Street-Wolkenkratzer in die Höhe streckt. Und anlässlich der Eurokrise titelt die Bild-Zeitung: „Verkauft doch Eure Inseln, Ihr Pleite-Griechen! Und die Akropolis gleich mit!“
Jene Bilder machen deutlich: In Krisenzeiten ist man stets auf der Suche nach Verantwortlichen, die zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Die traditionelle neoliberale Politik, so Ruser, bediene dieses Bedürfnis meist nicht: Schuld an der Krise sind nicht die Banker, sondern Irregularitäten der Märkte, die bloß wieder stabilisiert werden müssen. Anders beispielsweise die AfD, die ursprünglich einmal eine währungskritische Partei war: Heute hingegen gefährde nicht mehr die Globalisierung, sondern der syrische Flüchtling die Jobs rechtschaffener Bürger.
Einen weiterer Reiz, der in Krisenzeiten von populistischen Parteien ausgehe, trage die AfD bereits im Namen: anders als die etablierten Parteien, die das ins Straucheln geratene System für das einzig denkbare halten, bieten die Populisten Alternativen – Alternativen, die durch Wertvorstellungen statt durch Selbstzweck-Systemerhaltungen begründet werden. Damit bedienen sie das Bedürfnis nach Moral, das Menschen gerade in Zeiten großer Unsicherheit, in denen sie sich zudem ungerecht behandelt fühlen, entwickeln. Es ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis, das da in Krisenzeiten aufkeimt. Vielleicht könnte eine Auseinandersetzung mit populistischer Politik und Rhetorik auch den etablierten Parteien dabei helfen, es zukünftig besser zu befriedigen.
Titelbild:
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Bilder im Text:
| The White House / Washington, DC (P050210PS-0706, Gemeinfrei) | Link
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm