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Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
Das Wort klingt ja irgendwie altmodisch, wie eine etwas peinliche Erinnerung an die frühen Jahre der alten Bundesrepublik, deren erster Präsident dem jungen Staat und seinen schüchternen Ritualen ihre zurückhaltende Würde in württembergischen Tonfall gab und dabei unvermeidlich das Potential von kollektiven Gefühlen zu aktivieren hatte, die in den zwölf nationalsozialistischen Jahren eingeübt und von den meisten Deutschen mit Inbrunst gelebt worden waren. Schillers fast immer im Grenzbereich des Sprichwörtlichen liegende lyrische Kadenzen (zuerst ja gewiss auch auf Württembergisch imaginiert) gaben wie eine Stimmgabel die Tonlage vor, welche zum Zungenschlag des Präsidenten passte. Diese Gedichte hatten auch genug an einem mit überirdischen Sphären spielenden National-Pathos gehabt, um ihren Autor zu einem Lieblingsdichter der Nazis werden zu lassen (woran Schiller keine Schuld traf), und andererseits besassen sie hinreichend säkular-revolutionäre Energie für den Bedarf einer in beiden Staaten dezidiert neuen Zeit der deutschen Geschichte.
Dass die Delegierten aus beiden Staaten sich für die deutsch-deutschen Olympiamannschaften der fünfziger und sechziger Jahre auf Schillers “Ode an die Freude” in Beethovens Vertonung (vom Ende der Neunten Symphonie) als Hymne einigten, war also wirklich kein Wunder. “Freude, schöner Götterfunke, / Tochter aus Elysium, / Wir betreten feuertrunken, / Himmlische, dein Heiligtum.” An diese Verse, da bin ich mir sicher, hätte ich mich bis ins hohe Alter wohl auch dann erinnert, wenn ich kein Literaturwissenschaftler geworden wäre (allerdings war mir viele Jahre lang nicht aufgefallen, dass ich den lyrischen Auftakt im Sinn von “Freude schöner GötterfunkeN” missverstanden hatte, ohne Komma nach “Freude” und mit den “Götterfunken” im Genitiv Plural — als sei die “Freude” eine Reaktion auf von den Göttern versprühte Funken, statt selbst der aus ihrer Nähe entstandene Funke zu sein).
So schöne Verse wie “Freude heißt die starke Feder / in der ewigen Natur. / Freude, Freude treibt die Räder / in der großen Weltenuhr,” die nicht zum Auftakt der Ode gehören, sind allerdings, muss ich leicht verlegen zugeben, nicht zu einem Teil meines heute noch auswendig abrufbaren Lyrik-Repertoires geworden. Auf die Schiller-Beethovenschen Klänge aber passten durchaus die Antworten meiner Mutter, wenn ich sie fragte, warum es denn (vor allem im Frühjahr) so viele Feiertage wie den 1. Mai gab, den Vatertag und, angenehm nah bei meinem Geburtstag, auch den 17. Juni. “Das soll die deutschen Arbeiter ehren und alles, was sie für uns tun,” sagte meine Mutter ohne Zögern und mit einer im Rückblick ja sehr symptomatischen Verengung des proletarischen Internationalismus auf die Tugend einer spezifisch deutschen (und also per Konnotation vormals national-sozialistischen) gesellschaftlichen Klasse. Großzügiges Verständnis zeigte sie sogar für die Alkohol-durchflossenen Selbstfeiern auf den jährlichen Kollektiv-Ausflügen zum Vatertag (anders gesagt: sie tolerierte den einen Freuden-Exzess für die plattfüßigen Bacchanten der Nation), und schließlich erklärte sie mir sogar, wie aus dem unterdrückten Protest von Arbeitern in Ostberlin Vorfreude auf ein wiederzuvereinigendes Deutschland entstehen sollte. All diese Auskünfte hatten durchaus Konturen und einen Schwung, den ich heute – gut sechzig Jahre später – in meiner Vorstellung mit der Jungvolk- und Bund-Deutscher-Mädchen-Sozialisation meiner Eltern verbinde (wobei es fällt mir schwer fällt, das erleichternde “warum denn nicht?” hinzuzufügen).
Als wir uns dann zehn Jahre später aufs Abitur vorbereiteten, echte “Pennäler” schon (oder noch), nicht selten mit Schlips und Jackett im Unterricht und einer offiziellen Raucherecke im Schulhof, begannen einige meine Klassenkameraden (sagte man damals) selbstironisch und doch auch mit Begeisterung den “Sedanstag” zu feiern, in einer Gaststätte übrigens, die sich “Alt Sedan” nannte, das heißt: den Tag des entscheidenden Sieges der preußischen über die französische Armee im Krieg von 1870/1871. Schwer zu sagen – im Blick auf jene unmittelbare Vorzeit der sogenannten “Studentenrevolution von 1968” – ob ihre Selbst-Ironie ein Protest gegen (immer noch) zuwenig oder gegen (schon wieder) zuviel nationale Freude in unserem Alltag war. Zwei oder drei von meinen Sedan-inspirierten Freunden erschienen jedenfalls nicht zur Abiturfeier (und ließen sich das Abschlusszeugnis per Post zustellen), was im Juli 1967 entweder (konservativ) wie ein Sakrileg oder (progressiv) wie ein Affront wirken musste. Etwas war nun endlich in Bewegung geraten, in eine Krise sogar, mit jener kollektiven Freude, welche die Politiker-Generation von Heuss und Adenauer so geschickt über die Schwelle von 1945 hinweg gerettet hatte.
Nun vermute ich, dass die Unsicherheit hinsichtlich positiver Kollektiv-Gefühle schon damals eher ein europäisches als ein “spezifisch deutsches” Problem war – und bis heute geblieben ist. Denn als zum Beispiel mitte der achtziger Jahre ein europäisches Spezialisten-Gremium eingerichtet wurde, um die Feierlichkeiten von 1989 zum zweihundertsten Jahrestag der französischen Revolution vorzubereiten, gab es dort eine starke und intellektuell herausragende Fraktion von vor allem französischen Kollegen (einer von ihnen war der große Historiker François Furet), die vorschlugen, das zentrale Fest ihrer Nation in gewollt ironischem Bezug auf vorausgehende Formen der Feier des 14. Juli 1789 zu inszenieren und begehen. Nicht unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg, sondern erst im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts geriet so eine abendländische Tradition von nationalen Feiern und nationaler Freude ins selbstzweifelnde Stocken.
Doch was genau bedeutet “Freude” in diesem Zusammenhang, was ist die “Freude,” die Europa möglicherweise verloren hat? Es geht natürlich nicht um das individuell positive Gefühl über ein erlebtes Ereignis oder auch eine Erinnerung, auf die man mit Lächeln (und übrigens ganz vorbewusst auch mit einer Bewegung der Augenrundmuskeln) reagiert. Ebensowenig ist es die Freude einer in sich selbst noch überschaubaren und explizit konstituierten Gruppe von Familienmitgliedern, Parteimitgliedern, Fans oder Spezialisten anlässlich einer aus ihrer jeweiligen Perspektive positiven Situation. Schließlich kann es auch jene individuell permanente Freude nicht sein, die nach einer allgemeinen Empfehlung – vor allem in der Philosophie des Konfuzius – jedes recht geführte individuelle Leben am Ende belohnen soll.
Ich beziehe mich vielmehr auf eine nur in großen Gruppen entstehende oder auch durch Rituale zu evozierende Freude, eine Freude in Gruppen, wo Individuen sich nicht mehr durchgängig kennen können und auch nicht – im Sinn von Lobbys — durch umfassend geteilte Wünsche, Interessen oder Intentionen (“alle wollen klassische Musik hören,” “alle wollen, dass eine bestimmte Mannschaft gewinnt”) kollektive Identität gewinnen – sondern eher durch ähnliche Bezugspunkte in ihren jeweils individuellen Geschichten. Es handelt sich um Gruppen, in denen zum Beispiel alle Sizilianer sind oder rothaarig, eine katholische Familientradition haben oder einen Bachelor of Arts von der University of Oregon. Ihre Freude braucht einen jeweils spezifischen Ort, um sich zu artikulieren, hat immer einen Beginn, soll über eine bestimmte Zeit andauern und am Ende vom weitergehenden Alltag absorbiert werden. Vor allem aber ist es diese Form kollektiver Freude, in der die Sichtbarkeit und Spürbarkeit der akkumulierten individuellen Freude für jede Einzelne und jeden Einzelnen zu einer objektiven Umwelt von kollektiver Freude als Stimmung werden, in die sie eintauchen können.
Man sieht diese Freude global, nach einem besonders gelungenen und als Ereignis charismatischen Konzert, bei Sport-Ereignissen oder bei den Feiern von Siegen und Meisterschaften. Aber sie ist – zumal in Europa – kaum noch eine Form, die sich im Alltag der Politik, der Ausbildung oder des Berufs zeigen könnte. Ist dieser Verlust Teil der europäischen Entwicklung hin zu einer Grundkonfiguration, wo der Staat allein noch die Verpflichtung hat, Individuen zu schützen und zu versorgen, ohne ein kollektiver Fluchtpunkt der Gefühle bleiben zu dürfen? Und wo Bildung als eine ausschließlich individuelle Dimension von Leistung und Kompetenz aufgefasst wird.
Der europäischen Union ist es nicht gelungen, ihre eigenen Feste zu etablieren und ihren eigenen Ton der Freude zu finden, obwohl sie in vielen Mitgliedsländern von der Bürger-Mehrheit begrüßt wird. Ich habe den Eindruck, dass sich ihre Feier-Tage als – neutrale – Frei-Tage mit regelmäßig wiederholten Fest-Kommentaren und Reden an der Periphere der öffentlichen Medien vollziehen. Äquivalente zum amerikanischen “Fourth of July” oder zu “Thanksgiving” gibt es selbst in jenen europäischen Nationen kaum mehr, die sich ein positives Verhältnis zur eigenen Geschichte leisten können – und wollen (wie Großbritannien und Frankreich). Tage einer bejahenden Reflexion auf die Nation und des Bezugs auf traditionelle Ritualen, selbst bloße Formulierungen wie “celebrating our nation” sind ganz und gar unüblich geworden, so dass europäische oder nationale Feiertage zu Tagen der individuellen Freizeit werden.
“Commencement” heißt die Jahresabschlussfeier an amerikanischen Universitäten, genauer: die Feier für die ihre College-Erziehung und andere Programme abschließenden Studenten, “Commencement” (“Beginn”) offenbar deshalb, weil dieser Tag ja nicht nur am Ende von Bildungs- und Ausbildungszeit steht, sondern so auch notwendig zum “Beginn” einer individuell neuen Lebensphase wird. Mitte Juni war ich – als Vater – beim Commencement Day der University of Oregon. Der Festakt, in dem jedes Jahr mehreren Tausend jungen Frauen und Männern aus allen Studiengängen offiziell ihr neuer akademischer Status verliehen wird, begann mit der Nationalhymne (a capella-gesungen), setzte sich mit dem Vortrag eines ”Ehemaligen” fort, der in der Welt elektronischer Musik sehr erfolgreich arbeitet, führte zu dem an einen Segen erinnernden Ritual der Verteilung akademischer Würden — und endete mit einem Rock-Song, der in den Pausen bei allen Heimspielen der sehr erfolgreichen American Football-Mannschaft der University of Oregon gespielt wird. Beinahe fünftausend neue Bachelors, standen auf, tanzten in einer Explosion von Freude, animierten die zwanzigtausend um sie versammelten Verwandten und Freunde zum Mittanzen, tanzten aus dem Basketball-Stadium hinaus – und in ihre Lebens-Zukunft.
Hat eine Über-Säkularisierung – aus verständlicher Angst vor Situationen mit kollektivem Enthusiasmus – solche Rituale in Europa für immer zerstört? Und, das ist die eigentliche Frage: warum sollte man sie und mit ihnen die Freude zu neuem Leben erwecken? Immer vorausgesetzt, dass sich dies überhaupt schaffen ließe.
Der Artikel ist im FAZ-Blog "Digital/Pausen" von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.
Titelbild: Serge klk / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
Bilder im Text: Pedro Ribeiro Simões / flickr.com (CC BY 2.0)
Jubilee Debt Campaign / flickr.com (CC BY-NC 2.0)
CGP Grey / flickr.com (CC BY 2.0)
Theophilos Papadopoulos / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm und Alina Zimmermann