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Markus M. Müller hat seit 2009 die Honorarprofessur für Politik- und Verwaltungswissenschaften inne. In seinen Forschungsschwerpunkten befasst sich Müller mit den Regierungssystemen Deutschlands, der USA, Großbritanniens sowie mit Internationaler Politik, insbesondere international vergleichender Wirtschaftspolitik.
Gestatten Sie mir ein kleines und fast ernst gemeintes Gedankenexperiment. Stellen Sie sich vor, es ist das Jahr 4017 und wie durch ein Wunder hat die Menschheit bis dahin tatsächlich überlebt. Die archäologische Sensation des Jahres ist die Wiederentdeckung der Stadt Florenz. Neben den herausragenden Kunstwerken und Baudenkmälern der Renaissance stoßen die Archäologen auch auf merkwürdiges Schriftgut. Es handelt sich um die historischen Archive der EU, angesiedelt am damaligen Europäischen Hochschulinstitut. Vor- und Frühgeschichtler machen sich nun an die Auswertung der zahlreichen Fundstücke über dieses sagenumwobene Reich, genannt Europäische Union. Was rekonstruieren sie wohl?
Ich wage drei Thesen. Erstens, dieses merkwürdige Gebilde hat offenbar Maß genommen an dem 2000 Jahre älteren, sogenannten Römischen Reich, indem seine Gründungsverträge eben dort geschlossen und nach diesem Ort benannt wurden. Zweitens, diese seit dem Ende des 20. Jahrhunderts sogenannte Europäische Union war offensichtlich auf Expansionskurs und eroberte in mehreren Wellen über Jahrzehnte fast den gesamten europäischen Kontinent. Sie verbreitete dabei ein komplexes Rechtssystem, genannt Acquis Communautaire. Die hegemonialen Mächte innerhalb dieser EU erkauften sich offenbar mit der Hilfe von Finanztransfers, die sie vor allem an die Peripherieregionen leisteten, deren Loyalität. Und drittens, eine ziemlich große Kaste von Hohen Priestern, die in zwei Metropolen in der Mitte Europas residierten, entwickelten ein hochgradig komplexes – und sicherlich von keinem Menschen außerhalb dieser Kaste verstehbares – System an Regeln und Entscheidungsverfahren zur Steuerung von Recht und Verteilung von Ressourcen. Diese Hohen Priester müssen höchstes Ansehen und große Zustimmung bei den Völkern in der Europäischen Union genossen haben, wie sonst wäre es zu erklären, dass diese mystisch-geheimnisvolle Regelwelt über Jahrzehnte allgemein akzeptiert wurde?
Die Dokumente der historischen Archive belegen in der Tat, namentlich in den sogenannten Sonntagsreden, dass eine Art religiöse Aura dieses Reich umgab. Doch dann scheint diese spirituelle Kraft abrupt zu enden, am 29. März 2017. An diesem Tag reicht eines der Inselvölker dieses Reiches ein förmliches Dokument am Sitz der Hohen Priester ein, mit dem es seinen Austritt aus der Union bekannt gibt. Erinnert dieser Sezessionsversuch nicht ein bisschen an die Schlacht des Varus?
Spaß beiseite. Die Europäische Integration ist eine Erfolgsgeschichte ohne Gleichen. Und dennoch: Ihre Materialisation in Organisation, Verfahren und Recht bleibt eine Projektionsfläche für alle möglichen Interpretationen, für wütende EU-Gegner, für glühende EU-Befürworter und natürlich für das große Mittelfeld, dessen Haltung zur Europäischen Union in der Regel sowohl von Zustimmung im Großen und Ganzen als auch Kritik im Einzelnen geprägt ist. Der Brexit ist eine Zäsur, so wenig EU-Kritik eine britische Singularität ist.
Krisen sind dem Prozess der Europäischen Integration wohl bekannt, von der „Politik des leeren Stuhls“ in den 1960er-Jahren über die Debatte um eine „Eurosklerose“ in den 1980ern. Und jedes Mal erhielt der Integrationsprozess durch eine neuerliche Erweiterungsrunde frischen Schwung. 2017 sind die Grenzen Europas allerdings weitgehend ausgereizt, die Chancen neuer Erweiterung etwa im Osten und Südosten stehen auf absehbare Zeit schlecht. Die Kraft zur Wiederbelebung des europäischen Geistes muss von innen kommen - und danach sieht es angesichts europakritischer Parteien in vielen Staaten ebenfalls nicht aus.
Die Beharrungskräfte der Bürokratie sind hoch. So schnell lässt sich das EU-Institutionenwerk nicht beseitigen. Und dennoch wage ich eine These zur Zukunft der EU aus der Sicht des Jahres 2017: Es muss gelingen, wenigstens für eine Kerngruppe der EU-Staaten, endlich zu einer Verfestigung europäischer Entscheidungsstrukturen – namentlich in der Außen- und Sicherheitspolitik, vermutlich unter Relativierung von Europäisierungsschritten auf anderen Gebieten – zu kommen, die einer Ausformung europäischer (Bundes-)Staatlichkeit gleichkommt. Sonst wird das europäische Projekt seine Legitimationsprobleme schwerlich in den Griff bekommen. Die Voraussetzungen für diese Entwicklung zur Staatlichkeit sind gegenwärtig leider besonders ungünstig. Wir müssen auf den Willen, auf Fortune und – ähnlich wie nach 1989 – auf die weltgeschichtlichen Umstände bauen.
Titelbild:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Markus M. Müller
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm