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Prof. Dr. Dietmar Schirmer ist Vertretungsprofessor für Vergleichende Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Europäische Institutionen, zuvor hatte er die Vertretungsprofessur für Empirische Policy-Forschung an der Zeppelin Universität inne. Nach dem Studium in München und Berlin sowie der Promotion in Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, lehrte er an der Freien Universität Berlin, der Cornell University, der Universität Wien sowie der University of British Columbia und der University of Florida. Er war außerdem Fellow am Deutschen Historischen Institut in Washington D.C. und ist Mitglied der American Political Science Association und des Council for European Studies.
Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der historisch-institutionalistischen vergleichenden Politikwissenschaft und der politischen Kulturforschung. Gegenwärtige Forschungsprojekte befassen sich mit dem Verhältnis von Nationalstaatlichkeit und regionalen Minderheitennationalismen in der EU sowie mit der Staatsarchitektur Europas seit der Renaissance.
Die chaotische Politikproduktion der Trump-Administration macht es dem Betrachter nahezu unmöglich zu unterscheiden, was Plan ist und was Improvisation, welche Nachrichten Eigenwert besitzen und welche lediglich dazu da sind, anderes zu übertönen, wo der Verbalmachismo aufhört und der Machismo der Tat beginnt. Das gilt auch für die Handelspolitik, in der es in den vergangenen Wochen besonders laut zuging. Das Folgende muss insofern mit dem Hinweis versehen werden, dass seine Voraussetzung, nämlich dass es dahinter irgendeine Art von Plan gibt, nicht stimmen muss.
Zu Trumps lange gepflegten Obsessionen gehören die negative Handelsbilanz der USA und die Annahme, dass sie das Resultat inkompetenter Verhandlungsführung auf der eigenen und unfairer Praktiken auf der anderen Seite sind. Das Resultat inkompetenten Verhandelns sind die Institutionen des Weltwirtschaftssystems, also WHO, Weltbank, IMF sowie die multilateralen Handelsabkommen; die, die sich unfair verhalten, sind namentlich China, die Europäische Union sowie die NAFTA-Partner Kanada und Mexiko, die zusammen für etwa 70 Prozent des amerikanischen Außenhandels stehen. Die Klage über das Handelsdefizit war zentraler Teil der Wahlkampagne Trumps, und diese Ansicht unterliegt den jüngeren Ankündigungen von Handelsbeschränkungen, mit denen er Verhaltensänderungen auf Seiten der für schuldig Erkannten herbeiführen möchte: #TradeWarsAreEasyToWin; #MAGA.
Nun kann man durchaus der Ansicht sein, dass es problematische Schieflagen gibt – etwa was den Schutz geistigen Eigentums im Austausch mit China anbetrifft. Darum geht es aber in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen kaum, stattdessen um die Paläo-Industrien Agrar, Energie, Stahl – Trumps Wählerbasis im Mittleren Westen und im Rust Belt lässt grüßen. Wenn man hier etwas ändern wollte, gäbe es dafür einen Weg, der erfolgversprechender und risikoärmer wäre als ein protektionistischer Überbietungswettkampf: Verhandlungen im Rahmen der WHO.
Wobei wir beim eigentlichen Punkt wären: Seit der Ankündigung der Zölle auf Stahl und Aluminium dreht sich der mediale Diskurs in erster Linie um die Gefahr, dass die Weltwirtschaft Opfer einer protektionistischen Eskalation werden könnte: Handelskrieg als unintendierte Konsequenz, wie in den 1930er-Jahren. Dass diese Gefahr besteht, lässt sich nicht von der Hand weisen. Es könnte allerdings auch sein, dass die Trump-Administration durchaus eine Zielorientierung besitzt, und zwar eine, die radikaler ist, als die im Stop-and-go angekündigten, verhängten und teilweise wieder ausgesetzten Zölle vermuten lassen, nämlich die Subversion der multilateralen Handelsordnung insgesamt.
Der populistische Reflex gegen die gegenwärtige Handelsordnung lässt sich historisch folgendermaßen herleiten: Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich im Westen unter Führung der USA ein internationales System, das John Ruggie in einem berühmten Aufsatz von 1982 als embedded liberalism beschrieben hat. Dabei handelt es sich um einen Kompromiss zwischen dem laissez-fair-Liberalismus des ersten goldenen Zeitalters der Globalisierung – das im Ersten Weltkrieg zu Ende ging – und der sich anschließenden protektionistischen und nationalistischen Gegenreaktion. Liberal ist am embedded liberalism die Präferenz für eine offene Wirtschaftsordnung; embedded ist er insofern, als er den nationalen Regierungen weitreichende Policy-Optionen – etwa in der Währungs-, Zoll-, Steuer-, Industrie- und Sozialpolitik – zugestand, mit denen sie die negativen Externalitäten internationaler Konkurrenz abfedern und die Risiken, die die einzelnen Industrien und Gruppen von Arbeitnehmern erzeugten, reduzieren konnten.
Als der keynesianische Konsens der Nachkriegszeit in den 1970er-Jahren zerbrach und in den 80ern durch die Hegemonie einer monetaristischen, angebotsorientierten Wirtschaftspolitik abgelöst wurde, wurde dieses Set von Policy-Optionen in seiner Wirksamkeit dramatisch reduziert – aus embedded liberalism wurde disembedded liberalism, aus Gesellschaften mit Märkten Märkte mit Gesellschaften. Dadurch wurden die zuvor domestizierten Risiken eines offenen Welthandels wieder freigesetzt. Die Folge waren rasante Anstiege an sozialer Ungleichheit, abnehmende Lohnquoten, prekäre Arbeitsverhältnisse, der Verlust alter Industrien und die Verarmung öffentlicher Haushalte, während sich gleichzeitig in der Spitze ein märchenhaftes Wachstum privater Reichtümer vollzog. Laut Oxfam gingen 2017 82 Prozent des weltweit erwirtschafteten Reichtums an die Top-1-Prozent.
Die Ideologie des selbstregulierenden Marktes und die zugehörigen politischen Maßnahmen riefen überall Gegenbewegungen hervor, zunächst in Lateinamerika, wo die Policy-Empfehlungen des Washington Consensus via IWF-Konditionalität zuerst realisiert wurden, dann auch in den Ländern des globalen Nordens. Der Gegenwind kam dabei von links, etwa in Form der Globalisierungskritik von Attac und der teilweise heftig geführten Auseinandersetzungen anlässlich etwa des WHO-Gipfels in Seattle 1999 oder des G8-Treffens in Genua 2001. Die Finanzkrise gebar Occupy Wall Street, das sich von New York aus über die Welt verbreitete und mit dem Slogan „We are the 99 percent“ die Stoßrichtung des Widerstandes angab. Diese linken Bewegungen blieben allerdings politisch zahnlos, weil ihnen jeder Zug zur Macht abging.
Ganz anders die Gegenbewegungen, die sich auf der Rechten ausbildeten. Seit den 1980er-Jahren hatte sich an den Rändern westlicher Gesellschaften eine xenophobe und nationalistische Stimmung herausgebildet, deren Attraktivität allerdings auf einige mehr oder minder erfolgreiche Parteien der Neuen Rechten begrenzt blieb. Das änderte sich, als sich in der Finanzkrise ab 2007 dieser kulturelle Nationalismus mit einem neuen Wirtschaftsnationalismus kreuzte und die Ressentiments gegen kulturelle Transnationalität und wirtschaftliche Globalität sich aneinander hochziehen konnten. Unter dem Banner der Volkssouveränität rief der neue rechte Populismus zur Verteidigung von Identität und Wohlstand auf gegen Fremde und Konkurrenten und gegen die Akteure und Institutionen der liberalen und globalen Ordnung. Diese Welle spülte das Vereinigte Königreich in Richtung Brexit und Trump ins Weiße Haus.
Die kulturellen Ängste, die an der Basis grassieren, lassen sich einfach und preiswert bedienen – #BuildTheWall. Was ihre wirtschaftlichen Verunsicherungen anbetrifft, ist die Lage etwas komplizierter. Von jenen Versprechen aus Trumps Wahlkampagne, die der unteren Mittelschicht hätten zu Gute kommen können, ist kaum etwas übrig, abgesehen von ein paar Krümeln aus der Steuersenkung und reichlich Trara um jeden Industriebetrieb, der irgendwo eine Fabrik eröffnen will. Wenn die Administration nichts tun will, was die Akkumulation des Reichtums der Vermögenden bremsen könnte (wovon man ausgehen kann), bietet es sich an, stattdessen den vertikalen Verteilungskonflikt im Inneren als einen horizontalen Konflikt der Volkswirtschaften auszugeben.
In einer Imagination, in der die Stagnation und Erosion der Mittelschicht nichts mit dem Reichtum der Reichen, sondern alles mit der Gemeinheit der anderen zu tun hat, werden aus Handelspartnern Gegner und aus den Institutionen jener Ordnung, die die USA in der Nachkriegszeit maßgeblich begründet haben, deren Werkzeuge. Trumps fundamentales Misstrauen gegenüber der Komplexität multilateraler Ordnungen und seine Präferenz fürs Bilaterale ist nicht nur in der Wirtschafts-, sondern auch in der Sicherheitspolitik gut dokumentiert; ein System bilateraler Abkommen würde nicht nur Trumps transaktionaler Mentalität entsprechen, sondern auch den USA einen strategischen Vorteil versprechen, weil bei bilateralen Verhandlungen der stärkere Partner am längeren Hebel sitzt. Man versteigt sich wohl nicht, wenn man annimmt, dass Trumps Bauchgefühl in diese Richtung weist und dass es sich mit dem Bauchgefühl seiner Basis deckt. Der Bruch mit der multilateralen Handelsordnung würde sich nahtlos in die Logik des anti-globalistischen Nationalismus fügen, auf dem der Erfolg autoritärer Populisten nicht nur in den USA beruht.
Das IMK (Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung) hat gerade die neueste Ausgabe seines Konjunkturindikators veröffentlicht und dabei auf erhebliche konjunkturelle Risiken hingewiesen. Als Hauptursache nennt es die US-Handelspolitik. Die Zerstörung des bestehenden internationalen Handelsregimes erfordert keine vollständige Abkehr von den Prinzipien freien Handels; eine selektive Distanzierung und die Subversion seiner Regeln genügen völlig, um ein auf Kooperation gegründetes System in ein System des Bullying zu verwandeln.
Die Reformbedürftigkeit weltwirtschaftlicher Governance ist unbestreitbar. Wäre alles im grünen Bereich, ließe sich nicht so einfach und effektiv dagegen mobilisieren. Aber was nottut ist nicht die Zerstörung des multilateralen Systems, sondern die Rekonstruktion eines embedded liberalism – der die Effizienz des Marktes mit den Werten sozialer Gemeinschaften wieder versöhnt – auf globaler Ebene.
Titelbild:
| Official White House Photos by D. Myles Cullen / whitehouse.gov (Pressebilder)
Bilder im Text:
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| President of Russia / en.kremlin.ru (Pressebilder)
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Dietmar Schirmer
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm