ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Thorsten Philipp studierte Kunstgeschichte, Romanische Philologie und Politische Wissenschaften an den Universitäten München, Wien, Brescia und Aix-en-Provence. 2009 wurde er am Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaften der Universität München promoviert. Nach Forschungstätigkeiten an der Universität der Bundeswehr München und am Newmaninstitutet Uppsala war er bis 2012 als Politikberater mit Schwerpunkt Umwelt und Entwicklung in Brüssel tätig. Von 2014 bis 2018 lehrte und forschte Thorsten Philipp an der Zeppelin Universität Friedrichshafen, wo er unter anderem die berufsbegleitenden Studiengänge Digital Pioneering und Business & Leadership for Engineers leitete. Seit 2018 ist Thorsten Philipp als Wissenschaftlicher Referent an der Technischen Universität Berlin tätig. Er ist Mitglied der Task Force Exzellenzstrategie des Präsidenten.
„Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen, ‚Dies ist mein‘ und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft“, schrieb Jean-Jacques Rousseau 1755 in einer Mischung aus Fortschrittskritik, Faszination und Abscheu. In der Unterscheidung von Mein und Dein lag für den Genfer Philosophen nicht nur der Eintritt in die Vergesellschaftung des Individuums, sondern auch die eigentliche Ursache irreversibler Dekadenz: Mit dem Eigentum wurde der eine zum Herrn, der andere zum Diener. Aus der Ungleichheit gab es kein Entkommen.
Eigentum ist bis heute ein zentrales Kennzeichen unserer Gesellschaften geblieben. Im Spannungsfeld digitaler Transformation und globaler Umweltkonflikte wird es indes durch vielfältige Theorien und Praktiken des Teilens durchbrochen: Das Spektrum der Bewältigungsversuche zur Lösung ökonomischer und politischer Dysfunktion reicht von Carsharing und Gemeinschaftsgärten über Tauschringe, Open-Access-Modellen und Food-Rescue-Initiativen bis hin zu partizipativen Stadtentwicklungsprojekten und Kulturfestivals. Teilen ist ein heterogener und schnell wachsender Erfahrungsraum geworden.
Geistesgeschichtliche Grundlagen und aktuelle Praktiken des Teilens standen im Mittelpunkt einer Tagung, zu der die Hanns-Seidel-Stiftung zuletzt Stipendiatinnen und Stipendiaten ihres Begabtenförderungswerks – darunter auch die Mitglieder der Friedrichshafener Hochschulgruppe – nach Berlin geladen hatte. Wie gestalten sich Prozesse des Teilens unter Bedingungen zunehmender Individualisierung und Varianz, wenn kulturelle Homogenität abnimmt, traditionelle Autoritäten ihre Herrschaftspositionen verlieren und klassische Milieus verschwinden?
In seinem berühmt gewordenen Aufsatz zur Tragik der Allmende hatte der Biologe Garret Hardin 1968 die vormodernen Bewirtschaftungsformen des Gemeineigentums und des Teilens kühl dem Untergang zugeschrieben. Angesichts menschlicher Besitz- und Wachstumslogik sah Hardin die großen Allmenden der Gegenwart – und hier insbesondere die natürlichen Ressourcen der Erde – ohne Zukunft, sofern dem Wachstum der Weltbevölkerung nicht künstliche Grenzen gesetzt würden: „Freedom brings ruin to all“, bilanzierte Hardin. Elinor Ostroms 1990 erstmals veröffentlichte und mehrfach preisgekrönte Gegenschrift „Governing the Commons“ gilt als der bis heute engagierteste Versuch, Hardins Behauptung zu falsifizieren. Traditionelle Formen des Teilens von Ressourcen, Böden usw. seien sehr wohl auch heute noch praktikabel, so Ostrom, wenn bestimmte Anforderungen (Design Principles) erfüllt seien: So müssten Nutzer und Nicht-Nutzer klar voneinander abgegrenzt werden, Entscheidungen müssten gemeinschaftlich getroffen werden und abgestufte Sanktions- und Konfliktlösungsmechanismen müssten von allen Teilnehmenden anerkannt werden.
In der Spannung dieser beiden Positionen erfreut sich der Allmendegedanke und mit ihm die Idee des Teilens gerade in Berlin auffällig hoher Popularität: Die Gemeinschaftsgärten auf den Flächen des ehemaligen Flughafens Tempelhof erscheinen als ihr prägnantester Ausdruck. Hier werden keineswegs nur mehr Böden geteilt: Die Allmende unserer Tage stellt sich vielmehr als Lernort, Wissensressource und sogar Saatgutspeicher dar. Sie verstärkt die Ausbildung sozialer Netzwerke, aktiviert die Nachbarschaft und bietet neben Erholung und Gesundheit Raum für Mitbestimmung. Besitz statt Eigentum ist denn auch die zentrale Ausgangsüberlegung dieser und ähnlicher Projekte, die in Berlin und darüber hinaus in zahlreichen Ausprägungen auftreten.
Der Practical Turn kennzeichnet die neuen Formen des Teilens, die – wie Christa Müller, Leiterin der anstiftung, in ihrem Vortrag darlegen konnte – den Bürger nicht länger als „Marktbürger“ oder als „Kunde mit Rechten“ dastehen lassen: Die Gesellschaft legt die Publikumsrolle ab, stattet sich mit Handlungsmacht aus und verlässt das Dickicht der Abhängigkeiten, das durch Konsumterror, Werbedruck und Wachstumsdoktrin entstanden ist. Die zahleichen Do-it-yourself-Bewegungen und Ausprägungen der Reparaturkultur brechen nicht nur mit dem Demokratieverständnis des 21. Jahrhunderts, sondern auch mit der Technikkritik der 1968er-Revolte: Die neue Kultur des Teilens ist technikaffin, kreativ, vernetzt – und auf ihre Weise doch auch zutiefst respektlos gegenüber Technik: „Wir öffnen alles!“ lautet ihre Kampfansage an geplante Obsoleszenz, Verschwendung und bedenkenlose Güterentsorgung.
Das Teilen von Gütern hat damit nicht nur in Landwirtschaft und Gartenbau, sondern auch im urbanen Leben eine lange und facettenreiche Tradition, wie sich an den zahlreichen Formen der Genossenschaftsidee zeigt. Die dahinterstehenden Geschäftsmodelle, so diagnostizierte Ökonom Patrick Stähler in seinem Vortrag, wurden allerdings in den meisten Fällen nicht weiterentwickelt und angepasst – insbesondere dann nicht, wenn das Ziel der Selbsthilfe erreicht schien. Die Veränderungen im Zeitalter des Internets, in dem das Teilen einen geradezu banalen Vorgang darstellt, zeigen indes auch, dass unternehmerische Tätigkeiten nicht das Gegenteil von Gemeinnutz und gemeinschaftlichen Teilens sein müssen. Ob ein digitales Geschäftsmodell der Sharing Economy erfolgreich ist, liegt weniger am Grad geteilter Güter, sondern vor allem an der Frage, inwieweit es klassische Rebound-Effekte vermeiden kann: Carsharing führt in vielen Innenstädten Deutschlands eben keineswegs zur Verkehrsreduktion, sondern verleitet – entgegen seiner ursprünglichen Zielsetzung – viele Nutzer des Öffentlichen Nahverkehrs zum Umstieg ins Auto.
Teilen, so zeigte diese Tagung im Spannungsfeld von Nutzungsdruck, urbaner Subsistenz und Praktiken des Postwachstums, vollzieht sich anders als in vormodernen Gesellschaften unter dem Zeichen der Varianz, der Heterogenität, der Unterschiede, der Abweichungen und Differenzspannungen. Ihre geteilte Ressource ist die Kreativität im Andenken und Umsetzen zukunftsfähiger Lebensstile.
Titelbild:
| DriveNow / Pressebilder (alle Rechte vorbehalten)
Bilder im Text:
| Dr. Thorsten Philipp (alle Rechte vorbehalten)
| Dr. Thorsten Philipp (alle Rechte vorbehalten)
Beitrag (mit Bildunterschriften): Dr. Thorsten Philipp
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm