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Nach ihrem Bachelorstudium der Politikwissenschaft und Soziologie an der Ludwig-Maximilian-Universität München, absolvierte Vitoria De Pieri den Masterstudiengang „Politics, Administration and International Relations“ an der Zeppelin Universität. Während ihres Masterstudiums vertiefte sie sich im Feld der postkolonialen und kritischen Rassismustheorien, die sie auch zum Thema ihrer nun ausgezeichneten Masterarbeit macht. Im Fallsemester 2020 initiierte sie eine StudentStudy, um der Thematik im Rahmen eines wissenschaftlichen Seminars an der Zeppelin Universität die gebührende und notwendige Aufmerksamkeit zu widmen.
Von einem Verschwinden der Grenzen im Zuge von Globalisierungsprozessen kann – wenn überhaupt – nur bedingt die Rede sein. In der Welt, wie wir sie heute erleben, bestimmen Grenzen nicht nur das Alltagsleben, sondern auch ein jedes Sein – sie sind ein fundamentaler Bestandteil von Identität. Was, durch die Linse der Globalisierung betrachtet, umso klarer wird, ist, dass Grenzen keine starren Konstrukte sind: Sie sind unbeständig, werden immer wieder aufs Neue gezogen oder entschärft, mit neuer Sinnhaftigkeit geladen, gerechtfertigt, beschmückt und in andere Kontexte verschoben. An keiner anderen Stelle wird die Volatilität und Fragilität von Grenzen so sichtbar wie im Feld der Migration. Angesichts dessen treten Fragen danach, wer für wen welche Grenzen zieht beziehungsweise ziehen darf, wie sie entstehen und begründet werden und allem voran welche Grenzen überwunden werden müssen, in den Vordergrund.
Meine Masterarbeit ist in erster Linie ein Produkt persönlicher Belange und alltäglicher Irritationen. Während ich – eine junge, Weiße und körperlich gesunde Cis-Frau – die Arbeit verfasse, sitze ich meist, wenn auch hinter einer chirurgischen Maske versteckt, im Lesesaal einer deutschen Privatuniversität. Obwohl Migrationserfahrungen meine Identität prägen, scheine ich in diesem Umfeld nicht als Migrantin erkennbar zu sein. An der einen oder anderen Stelle mag mein Name darauf aufmerksam machen. In der Regel führt er jedoch zu dem Trugschluss, meine Herkunft in Italien zu verorten, weshalb ich letztlich der Kategorie einer aus Italien zugezogenen Nachbarin zugeordnet werde. Das deutsche (Un-)Wort Migrationshintergrund trifft es in meinem Fall ziemlich genau, denn meine Migrationserfahrung ist für meine Existenz hier nicht von Bedeutung - eindeutig Nebensache und tatsächlich im Hintergrund also.
Wie sich im Verlauf meines Lebens immer wieder herausstellt, ist dieser Umstand eine außergewöhnliche Besonderheit, dessen Wahrnehmung sich seit der Geburt meines Neffen vor drei Jahren wesentlich verschärft hat. Obwohl er erst vor kurzem das Sprechen erlernt hat, sind seine Begegnungen stark vom Interesse an seiner Herkunft geprägt. Dies ist besonders irritierend, zumal er in Österreich geboren wurde und dort lebt und aufwächst. Zu seiner weitesten Reise gehört eine zweistündige Autofahrt nach München. Und dennoch trägt er ein Merkmal, das Migration für sein österreichisches Dasein unabdingbar macht – er ist Schwarz.
Die weltweiten Ereignisse der vergangenen Jahre sowie auch aktueller Tage verdeutlichen das Problem auf einer größeren und komplexeren Ebene: Die unterschiedliche Konnotation von Mobilität und Migration zeigt sich unverkennbar an den europäischen Außengrenzen, wo die seit 2015 aus Kriegs- und Krisengebieten ankommenden Geflüchteten in menschenunwürdigen Lagern auf eine Erlaubnis zur Einreise in das europäische Eldorado warten. Auch innereuropäische Grenzen zeugen davon, wenn diese knapp sieben Jahre später für rund zwei Millionen von Krieg betroffenen Ukrainerinnen und Ukrainer nicht zu existieren scheinen – von einer Migrationskrise spricht heute selbst die BILD-Zeitung nicht.
Was ist es also, das Grenzen für einige unsichtbar und für andere undurchdringbar macht? Was ist es, das einigen ein normales Leben in Europa ermöglicht, und zu welchem Preis – oder besser gesagt – auf wessen Kosten? Es scheint, dass Migration an Bedingungen geknüpft ist, die nicht einfach abgetan werden können, zumal sie immensen Einfluss auf das Leben von Millionen von Menschen haben, ob nun unterwegs oder nicht. Im Rahmen meiner Abschlussarbeit konkretisiert sich das Forschungsinteresse in der Frage nach dem Zustandekommen widersprüchlicher Migrationsregime, die bestimmten Menschen Mobilitätsfreiheit gewähren, während dieselbe anderen verwehrt bleibt.
Brasilien bietet einen überaus fruchtbaren Grund für die Untersuchung von Migrationsregimen und ihr Funktionieren, da Staat und Nation stark von Ein- und Zuwanderung geprägt sind. Nach der Kolonisierung durch Portugal, galt das Land zu Zeiten der Maafa als Hauptgefängnis versklavter Menschen, indem bis heute die meisten Menschen afrikanischer Herkunft außerhalb Afrikas leben.
Nach der rechtlichen Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1888 wurde Brasilien gemeinsam mit den Vereinigten Staaten, Argentinien und Kanada zur Lieblingsdestination weißer europäischer Emigrantinnen und Emigranten. Was sich im Rahmen der letztgenannten Migrationsbewegungen beziehungsweise der Etablierung eines Migrationsregimes zum Ende des 19. Jahrhunderts beobachten lässt, sind zum einen die Umstände, unter denen Migration stattfand, und zum anderen, wie diese die Rahmenbedingungen für Migration beeinflusst und gesetzt haben. Ausschlaggebend für die Regulierung von Migration war eine Idee menschlicher Rassen, wie sie in den Worten Immanuel Kants bestens dargestellt wird: „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen.“
Das Migrationsregime entsteht vor dem Hintergrund und im starken Kontrast zur Sklaverei: Während zu Beginn des Jahrhunderts Millionen schwarzer Menschen unter miserablen Bedingungen auf Sklavenschiffen von Afrika nach Brasilien verschleppt wurden, bestiegen gegen Ende des Jahrhunderts freie Europäerinnen und Europäer dutzende Dampfschiffe zur staatlich finanzierten Überfahrt in die Neue Welt. Während Erstere nach Ankunft auf Märkten verkauft und lebenslang in Zwangsarbeit gefangen gehalten wurden, galten Letztere als Träger von Zivilisation und Hoffnung. Entsprechend wurden sie mit fruchtbarem Land, bezahlter Arbeit und Freiheit in Empfang genommen. Die Unterschiede sowie die darin vermittelte Botschaft könnten deutlicher nicht sein.
Eine bestimmte Vorstellung idealer Migration entwickelt sich. Das Migrationsregime etabliert sich auf den ideologischen Säulen des Branqueamento: eine an den brasilianischen Gegebenheiten angepasste Version der in Europa aufkeimenden Rassenlehre. Die Adaptierung erwies sich als notwendige Bedingung für das Überleben des Gedankenguts. Vor dem Vorzeichen weißer Überlegenheit wird die Vermischung der „Rassen“ nicht missbilligt, wie in den Lehren eines pseudowissenschaftlichen Rassismus vorgeschrieben, sondern als große nationale Erlösungsperspektive neu interpretiert. Dem rassistischen Gedankengut folgend, befreit sich Brasilien aus seiner misslichen Lage – gegeben anhand der starken Präsenz von als minderwertig angesehenen Rassen – durch Mestiçagem: die Vermischung Weißer und Nicht-Weißer Menschen, in der das Weißsein und die damit verbundenen Stärken und Privilegien weitergegeben werden. Im Bemühen, „das Land heller zu machen“, entsteht Hoffnung, die in Petrischalen eines brasilianischen Rassenlabors unter Leitung einer Weißen (großenteils portugiesischen) intellektuellen und politischen Elite kultiviert wird.
Die Ideologie des Branqueamento sickert nachhaltig in den brasilianischen Senso Comune und auch in die Migrationspolitik ein. „Je weißer, umso besser“ lautet die Prämisse, der Migration fortan unterliegt. Das rassifizierte Argument findet sich in jedem Element wieder: Der sich mit dem Kaffeeboom und dem Ende der Sklaverei verschärfende Bedarf an Arbeitskräften legitimierte die staatliche Förderung Weißer, europäischer und freier Arbeitskraft, die auf Kosten der Disqualifizierung ehemals versklavter Schwarzer und Mestizen für selbstständige und entlohnte Arbeit vorangetrieben wurde. Vermeintlich leere Landflächen, die von indigenen Stämmen besetzt wurden, dienten als Lockmittel und wurden von öffentlicher Hand für die Niederlassung europäischer Migrantinnen und Migranten konfisziert und zu Spottpreisen – oder im Portugiesischen passend als „Bananenpreis“ bezeichnet – an diese verkauft beziehungsweise verschenkt.
Im Zuge der Ankurbelung von Arbeits- und Bevölkerungsmigration wurde die Einreise indigener, asiatischer und afrikanischer Menschen per Gesetz eingeschränkt. Diese durfte nur mit Genehmigung des Nationalkongresses und unter den dann festgelegten Bedingungen erfolgen. Es kann eine Umkehr des in Europa dominierenden migrationsfeindlichen Narrativ nachvollzogen werden, in dem (europäische) Migrantinnen und Migranten für Arbeit besser qualifiziert, für die Besetzung von mutmaßlich leeren nationalen Territorien besser geeignet, für eugenische Zwecke notwendig und für das nationale Selbstverständnis und internationale Ansehen des Landes von höherem kulturellem Wert sind.
Dieses Verständnis hat leicht tiefe Wurzeln geschlagen: Die Ehrung und Würdigung (Weißer, europäischer) Migration ist fester Bestandteil nationaler Identität. Wie der Historiker Jeffrey Lesser richtig beschreibt, ist Einwanderung für Brasilien derart wichtig, dass selbst diejenigen, die nicht im Ausland geboren sind, oft als Imigrante bezeichnet werden. Von der außerordentlichen Bedeutung zeugen zahlreiche Einrichtungen wie das Einwanderungsmuseum des Bundesstaates São Paulo, verschiedene Gedenkstätten und Denkmäler, aber auch die Erhaltung spezifischer migrantischer Traditionen. So wird in einem Land, indem sich mehr als 56 Prozent der Bevölkerung als Schwarz bezeichnet und das bis vor wenigen Jahren kein einziges Museum zur Geschichte der Sklaverei erhielt, auch im Jahr 2022 das alljährliche Oktoberfest in der von deutschen Einwanderern gegründeten Stadt Blumenau gefeiert.
Durch die Linse postkolonialer Theorien – darunter insbesondere der Critical Whiteness Studies – zeigt die genealogische Untersuchung des brasilianischen Falls auf, wie Rassismus als Bedingung nicht nur für die Entstehung, sondern auch für das Funktionieren und Wirken eines Migrationsregimes dient. Dabei fungiert die Kategorie der „Rasse“ als grundlegendes Orientierungs- und somit auch Abgrenzungsmerkmal für Migration und ihre Regulierung. Das untersuchte Material zeugt vom Willen, Migration zu kontrollieren und zu regulieren, der einer inhärent rassistischen Logik folgt.
Diese drückt sich darin aus, dass ausschließlich Weiße europäische Migration angesprochen und gefördert wird – zum Nachteil beziehungsweise auf Kosten von sowohl Nicht-Weißer Migration als auch postmigrantischer beziehungsweise einheimischer Nicht-Weißer Bevölkerungsgruppen, die in den sozialen Abgrund der Immobilität getrieben werden und aus dem es viele bis heute nicht geschafft haben. Das brasilianische Migrationsregime spiegelt die internationale Ordnung und die daraus folgenden Bedingungen der Migration wider, die bis heute unter den Bestimmungen des von dem Philosophen Charles Mills beschriebenen „Racial Contract“ erfolgt. Das Verhältnis von Menschen und Mobilität beziehungsweise Migration und Grenzen ist stark davon abhängig, ob man Weiß ist oder nicht.
Zeitgleich mit der Entstehung des brasilianischen Migrationsregimes beschreibt am anderen europäischen Ende der Welt einer der bedeutendsten Soziologen, W.E.B. Du Bois, das Weißsein als rassifizierte und transnationale Identität, die gleichzeitig global in ihrer Macht und persönlich in ihrer Bedeutung ist und als Grundlage geopolitischer Allianzen und subjektiver Selbstverständnisse dient. Folglich benennt Du Bois die wohl bis heute relevanteste Grenze internationaler Beziehungen aller Art: „The problem of the twentieth century is the problem of the color-line.“
Titelbild:
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Bilder im Text:
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| Por Modesto Brocos - Obra do próprio, Domínio público | Link
Beitrag (redaktionell unverändert): Vitoria De Pieri
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm